»DAS SÜSSE JENSEITS«

Dörfler in Trauer

Atom Egoyan untersucht ein Unglück

Ein kurzer unaufmerksamer Augenblick verändert das Leben einer ganzen Kleinstadt. Auf winterglatter Fahrbahn kommt ein Schulbus von der Straße ab und rutscht die Böschung hinunter auf einen zugefrorenen See. Das Eis bricht, und innerhalb weniger Sekunden versinkt der Bus und mit ihm 14 Kinder. Erst in der Mitte des Films zeigt der kanadische Regisseur Atom Egoyan ( Der Schätzer / Exotica ) das Ereignis, das für die Bewohner von Sam Dent, Britsh Columbia, zum unüberwindbaren Trauma wurde. Zuvor sammelt Das süsse Jenseits die Erinnerungen der Hinterbliebenen und wenigen Überlebenden der Tragödie ein und folgt dabei einem geschäftstüchtigen Anwalt bei seinen Recherchearbeiten. Kurz nach dem Unglück ist Mitchell Stevens (Ian Holm) an Ort und Stelle. "Für ihre Trauer bin ich nicht zuständig" sagt der charismatische Advokat zu den durch den Schock paralysierten Eltern, "aber lassen Sie mich Ihre Wut lenken". Er verspricht Schuldige für das Unglück zu finden: die Busgesellschaft, die Stadt oder irgendein Arbeiter in irgendeiner Fabrik, der irgendeine Schraube nicht richtig angezogen hat. Die Trauernden klammern sich an die Versprechungen des manischen Schuldsuchers wie an einen letzten Strohhalm. Die Schadensersatzklagen entzweien den kleinen Ort, in dem jeder jeden kennt. Die gemeinsame Fassungslosigkeit weicht einer Atmosphäre von Zweifel und Mißtrauen.
In einer komplexen Rückblendendramaturgie verwebt Atom Egoyan die Einzelschicksale der Betroffenen miteinander auf einfühlsame, jedoch völlig unsentimentale Weise. Auch vor dem Unfall war hinter den Haustüren die Familienidylle oftmals beschädigt, und hinter nachbarschaftlicher Freundschaftlichkeit verbergen sich unausgesprochene Intrigen.
Atom Egoyan geht es jedoch weniger darum, ein kriminalsoziologisches Verwirrspiel zu entwerfen, wie es etwa David Lynch in seiner Serie Twin Peaks getan hat, an die man sich atmosphärisch zuweilen erinnert fühlt. Vielmehr seziert Egoyan das Gefühl der Trauer vor der Kamera. Große Begriffe wie Schuld und Sühne werden angeführt, und Das süsse Jenseits zeigt, daß diese moralische Kategorien bei der Bewältigung dessen, was Schicksal genannt wird, keine heilende Wirkung erzielen. Der Film, der nach dem gleichnamigen Roman von Russell Banks entstand, sinniert über dieses schwergewichtige Thema ganz ohne Pathos.
In klaren Farben, kühlem Licht, ruhigen und genau kalkulierten Einstellungen und tiefenscharfen Bildern entwickelt Das süsse Jenseits eine optische Eindringlichkeit, die dieser Geschichte um Verlust und Trauer einen sicheren Platz im filmischen Gedächnis verschafft.

Martin Schwickert