INTIMACY

Jay & Claire tun es

Wozu Liebe, wenn man Sex haben kann?

Patrice Chéreaus Intimacy ist noch keine Minute alt und schon kommt der Film zur Sache - Sex. Nicht Liebe, sondern geradliniges, zielgerichtetes Begehren. Wenn Jay und Claire sich treffen, liegen die beiden schon nach dem ersten Schluck Instantkaffee und ein paar unbeholfenen Halbsätzen keuchend übereinander auf dem Fußboden. Die Kamera bleibt dort, wo andere ausblenden. Aber gerade durch ihre Direktheit verweigern sich die fast schon schmerzend intimen Bilder dem voyeuristischen Zugriff. Sex ist in Intimacy weder akrobatischer Designer-Sport noch heiliger Akt, sondern eine dringliche, sehr körperliche Angelegenheit, die auf Peinlichkeiten keine Rücksicht nehmen kann. Vor allem aber ist Sex eine Form der Kommunikation und die einzige Sprache, die die beiden Hauptfiguren miteinander verbindet.

Jeden Mittwoch Nachmittag treffen sich Jay (Mark Rylance) und Claire (Kerry Fox), um wortlos in einem Soutterainzimmer miteinander zu schlafen. Unmittelbar nach erfolgter Kopulation verlässt die Unbekannte das Haus und wird vom Großstadtverkehr verschluckt. Jay weiß nichts von seiner Geliebten. Der Barmann bewohnt ein heruntergekommenes Reihenhaus in einem Londoner Randbezirk. Dass die Nur-Sex-Beziehung zu Claire einer der letzten Haltegriffe in seinem verwahrlosten Leben ist, versteht er erst spät. Zunächst sieht alles nach einem bequemen Junggesellen-Arrangement aus. Dann siegt die Neugier und Jay folgt der Geliebten unerkannt quer durch die Stadt in ein kleines Kellertheater, wo Claire auf der Bühne steht. Im Publikum trifft er auf den gutmütigen Taxifahrer Andy (Timothy Spall), der sich als Claires Ehemann zu erkennen gibt. Unverhofft findet sich Jay im Privatleben der unbekannten Geliebten wieder und kann der Versuchung nicht widerstehen, die Ehe durch gezielte Indiskretionen heimlich zu zersetzen.

Patrice Chéreaus Intimacy kann man sich als passgenaues Gegenstück zu Frédéric Fonteynes Eine pornografische Beziehung vorstellen. In beiden Filmen geht es um Möglichkeiten und Grenzen von anonymen erotischen Beziehungen. Während Fonteynes Kamera jedoch vor der Tür des Hotelzimmers haltmachte, lässt sich Chéreau gezielt auf sexuellen Nahkampf und voyeuristische Gefahrensituationen ein, ohne mit skandalösen Tabubrüchen zu kokettieren. Kameramann Eric Gautier versteht es, die Sprache der keuchenden Körper zu übersetzen und die Einsamkeit der Charaktere im Sexuellen zu spiegeln. Unwirtlich erscheint die Welt drumherum. Unter dem winterblauen Himmel ist die Suche nach Wärme und Nähe nur vorübergehend erfolgreich. Intimacy lebt von den harten Kontrasten und vom gehetzten Tempo des Londoner Großstadtlebens. In Mark Rylance jungenhaft zerfurchtem Gesicht tragen Gefühl und Härte dieses Lebens eindrucksvolle Gefechte aus, während man hinter der zurückgezogenen Spielart von Kerry Fox erst langsam die Stärke ihrer Figur entdeckt. Intimacy ist ein binationales Zwitterprodukt. Der renommierte französische Theaterregisseur Chéreau hat hier die Romanvorlage des pakistanisch-englischen Autors Hanif Kureishi ( Mein wunderbarer Waschsalon ) für die Leinwand bearbeitet. Die Freizügigkeit und Präzision, mit der das französische Kino die Anatomie der Liebe studiert, verbindet sich fruchtbar mit der sozialen Genauigkeit des britischen Realismus.

Martin Schwickert

F 2001 R: Patrice Chéreau B: Patrice Chéraud, Anne-Louise Trivdic nach Texten von Hanif Kureishi K: Eric Gautier D: Kerry Fox, Mark Rylance, Timothy Spall