Imagine Ein Schiff wird kommen Ein Blinder unterrichtet Blinde im Sehen - eine faszinierende Studie über Lebenslust und Trotz Das Meer ist ganz nah", sagt Ian, "und ein großes Schiff liegt im Hafen." "Woher willst du das wissen?", fragt seine Freundin Eva, mit der Ian im Café sitzt. Eva und Ian sind blind. Eva hatte sich ängstlich vom Leben zurückgezogen. Bis sie Ian kennenlernte. Ian hat den obligatorischen Blindenstock beiseite gelegt und arbeitet mit einer Echolot-Methode, bei der er ständig Klicklaute erzeugt (mit der Zunge, mit Fingerschnippen, mit den Schuhen) und sich am Echo orientiert. Ians Methode gewährt mehr Freiheiten, ist aber auch gefährlich und daher in der Blindentherapie umstritten. Aus diesem eher trockenen Sachverhalt hat der polnische Regisseur Andrzej Jakimowski einen überaus faszinierenden Film gedreht, der im sonnenflirrenden Portugal spielt. Denn dort soll Ian, der blinde Lehrer, andere Blinde in seiner Methode unterrichten. Seine Schüler, vorwiegend Kinder, sind neugierig genug, das Neue zu probieren. Eva, Ians neue Freundin, ist eine junge Frau, die ebenso viel Hunger auf Leben hat wie sie das Leben in der Dunkelheit fürchtet. Ians Methode besteht nicht einfach darin, sich an Echos zu orientieren (obwohl er darin sehr gut ist), er lehrt vor allem, wie man die Welt interpretiert. "Warum habt ihr die Katze nicht bemerkt?", fragt er in einer seiner Unterrichtsstunden im Hof. "Wie kann man eine Katze hören?", fragt eine Schülerin ärgerlich. Und dann erklärt Ian, woran man erkennen konnte, dass gerade eine Katze über den Hof geschlichen kam. Die optische Bestätigung dessen, was Ian meint zu sehen, enthält uns der Film konsequent vor. Wir sehen die Gesichter der Blinden, wie sie die Welt interpretieren, in sie hinein horchen, und manchmal, ganz selten, sehen wir dann, was wirklich geschah. Zum Beispiel wird Eva später von den anderen Cafébesuchern erfahren, dass man von hier aus weder das Meer, geschweige denn ein Schiff sieht. Ian muss schließlich einen seiner Schüler mit auf Entdeckungstour quer durch die Stadt mitnehmen, um ihm zu zeigen, dass da doch ein Schiff war. Mit waghalsigen Kamerapositionen entwickelt der Film dabei eine enorme Spannung. Jakimowski spielt mit der inneren Dunkelheit seiner Protagonisten, aus der heraus ständig erschreckende und schöne Ereignisse hervortreten können. Er inszeniert und schneidet das mit enormer Könnerschaft, so dass wir nicht viel mehr sehen als die Blinden und trotzdem einen Film mit hoch emotionalen Bildern erleben, der alles gibt, was das Kino geben kann. Natürlich gibt es eine Liebesgeschichte, natürlich handelt Imagine auch vom brutalen Scheitern in einer Welt, die sich Bilder ohne Augen nicht vorstellen kann. Aber das geschieht nur am Rande. Den größten Moment erlebt der Film, wenn wir am Ende sehen, wie ein Schiff, das nicht zu sehen war, eben doch da war und nur für einen Blinden wahrnehmbar. Überhaupt gehört das offene Ende zu den bewegendsten und klügsten, die seit langem im Kino zu sehen waren. Der Film, mit Edward Hogg, Melchior Deruet und Alexandra Maria Lara vorzüglich besetzt, scheint ein einfaches Thema zu behandeln. Tage später, wenn man immer noch über die Bilder und die Geschichte dahinter grübelt, wird einem deutlich, wie viel mehr Andrezej Jakimoswki in Imagine verhandelt, wie viel poetische Tiefe dieser Film besitzt, der übrigens ganz ohne deutsche Filmförderungs- und Fernsehgelder entstand, was zwar keine Qualitätsgarantie darstellt, aber offensichtlich hilft. Thomas Friedrich Polen/Portugal/F/UK 2012 R & B: Andrzej Jakimowski K: Adam Bajerski D: Edward Hogg, Alexandra Maria Lara, Melchior Deruet. 105 Min.
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