»IDIOTEN«

So tun als ob

Freizeit-Irre im Clinch mit der Normalität

Die gediegene Restaurantatmosphäre wird empfindlich durch eine Behindertengruppe gestört. Sie schmatzen und sabbern am Essen herum. Die Blicke der anderen Gäste sind interessiert und angewidert zugleich. Einer aus der Gruppe geht hinüber zum Nachbartisch. Man reagiert freundlich und peinlich berührt. Als der ungebetene Tischgeselle sich jedoch mit bloßen Händen am Menü der anderen bedient, schlägt die Unbeholfenheit sofort um in Aggression, die Gruppe wird vom Kellner unsanft hinauskomplimeniert. Später im Wagen, der ein gut sichtbares Rollstuhlfahreremblem auf der Heckscheibe trägt, verwandeln sich die Irren plötzlich wieder in "normale" Menschen. Alles nur ein Spiel.
Die Idioten in Lars von Triers gleichnamigen Film tun nur so als ob, das jedoch mit großer Überzeugungskraft. In einem leerstehenden Haus in gut situierter Gegend leben die elf Mittzwanziger als Kommune zusammen und erforschen gemeinsam die Grenzen zwischen Normalität und Schwachsinn. Die einen sehen in diesem Experiment einen politischen Protest gegen die bürgerliche Gesellschaft, andere nutzen es als kreativen Befreiungsschlag oder kompensieren mit dem Rollenspiel eigene Probleme. Nicht nur nach außen wird das Abnorme demonstriert, auch untereinander verfallen die Männer und Frauen immer wieder in ihre Idiotenrolle. Das reicht von der Essensschlacht bis hin zum behinderten Kollektivsex. Die Gruppendynamik eskaliert zunehmend. Man konkurriert untereinander, wer den besten Irren abgibt, und schließlich fordert der Chef-Ideologe der Kommune, daß jeder zu Hause in seinem engsten Verwandtenkreis den Idioten spielen solle.
Die zurückhaltende Außenseiterin Karen läßt sich auf das Experiment ein und konfrontiert sich mit einer Familientragödie, die die Grenzen dieses Spiels deutlich sichtbar werden lassen.
Idioten ist nach Das Fest der zweite Film des dänischen Novelle-Vague-Kollektivs "Dogma 95". Lars von Trier, der zuletzt mit Breaking the Waves die Grenzen des Melodrams sprengte, feiert die ästhetischen Beschränkungen dieses "Keuchheitsgelübdes" als Befreiungsschlag. Das Skript hat er nach eigenen Angaben in nur vier Tagen heruntergeschrieben, die lockere Szenenfolge hat zum Teil durchaus Happening-Qualität. Das Wackeln der Handkamera macht einen zunächst ganz irre, aber das ist schließlich auch Sinn der Sache und bringt uns dem Thema näher. Nach außen sieht alles nach Dilettantismus aus, in seiner Wirkung ist Idioten jedoch sorgfältig durchdacht. Man braucht Zeit, um sich in diesem Film zurechtzufinden, denn die vertrauten dramaturgischen Regeln sind außer Kraft gesetzt. Wie in Vinterbergs Das Fest ist man auch hier vor Überraschungen nicht sicher, auch dieser Film ist eine eigentümliche, befreiende Seherfahrung, die die Normalität in- und außerhalb des Kinos angenehm beunruhigend in Frage stellt.

Martin Schwickert