»LOST HIGHWAY« Strasse in den Irrsinn
Mit seinem neuen Film arbeitet David Lynch weiter an der Destabilisierung der Wirklichkeit In einem Film von David Lynch möchte man nicht aufwachen. Konsequent bewegt sich der Kultregisseur innerhald der Schattenseiten der Seele. Lynch ist ein Meister bildgewordener Alpträume, denen man sich so wenig entziehen kann, weil sie direkt aus dem Unterbewußtsein herausgefilmt zu sein scheinen. Der Jazz-Musiker Fred Madison (Bill Pullman) lebt mit seiner Frau Renee (Patricia Arquette) sorgfältig abgeschottet in einem Bungalow irgendwo am Stadtrand. Hinter der klaustrophobischen Enge der Beziehung lauert der Verdacht auf Betrug. Während Fred nachts in den Clubs sein Saxophon quält, häufen sich die Anzeichen dafür, daß Renee ein Doppelleben führt. Ein Unbekannter deponiert Tag für Tag ein Videoband vor der Haustür. Darauf Bilder einer Kamera, die täglich tiefer in das Haus der Madisons eindringt. Die private Sphäre erscheint von innen und von außen bedroht. Fred wird von Ahnungen und Halluzinationen heimgesucht. Konsequent nimmt der Film die "Wirklichkeit" aus seiner Perspektive, mit seiner Sicht auf. Dabei ist neben den drohend-sphärischen Klängen auf der Tonspur, der eingeschränkte Blick der Kamera entscheidend für Suspense-Konzept dieses Filmes. Lynch setzt der Kamera Scheuklappen auf. Immer wieder die gleichen Ansichten auf das Haus, die gleichen starren Bildausschnitte aus dem Rauminneren. Sooft das spartanisch stilvoll eingerichtete Zimmer gezeigt wird, nie bekommt man eine Vorstellung für die Gesamttopographie des Raumes. Bewegt sich die Kamera, folgt sie dem Protagonisten durch die unvollständig ausgeleuchteten Flure, ohne den Blick schweifen zu lassen. Nur Bruchteile von Sekunden sieht man den Mord, den Fred möglicherweise an seiner Frau begangen hat. Er kann sich an die Tat nicht erinnern, die Indizien reichen aus, um ihn ins Gefängnis zu bringen. Als ein Wärter morgends die Tür aufschließt sitzt in der Zelle jedoch nicht mehr Madison, sondern Pete Dayton (Balthasar Ghetty). Die mysteriöse Verwandlung führt zur Freilassung des Häftlings. Der Automechaniker Pete nimmt sein normales Leben wieder auf, aber irgendwie scheint sich die Wirklichkeit um ihn herum verändert zu haben. Sein Erinnerungen sind lückenhaft. Was ihm fremd sein müßte, kommt ihm bekannt vor. Als sein bester Kunde der Gangsterboß Mr. Eddy (Robert Loggia) in Begleitung von Alice (auch Patricia Arquette) auftaucht, fühlt er sich von der Frau, die aussieht wie die ermordete Renee Madison, magisch angezogen. Eine gefährliche Liebschaft beginnt, in deren traumatischen Verlauf Fred Madison und Pete Dayton zu einer (schizophrenen) Person verschmelzen. Noch deutlicher als in seinen vorherigen Werken verabschiedet sich Lynch in Lost Highway vom Erzählen realitätstauglicher Geschichten, um noch tiefer in psychische Abgründe hineinzutauchen. Ohne auf brutale Schockelemente zurückzugreifen, arbeitet Lynch an einer Atmosphäre dauernder Bedrohung. Der monströse Sound, der sichtbar beschränkte Blick der Kamera und die Undurchschaubarkeit des Raumes - systematisch wird die Wahrnehmung destabilisiert. Die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen, die Zeitebenen werden durcheinander geschüttelt. Immer wieder tauchen als Deja Vu Motive aus anderen Lynch-Filmen auf: Der tiefrote Samtvorhang, hinter dem eine zweite Wirklichkeit verborgen ist, der Gnom, der aus einer anderen Welt zu kommen scheint, oder die brutale vaterähnliche Ganovenfigur. Robert Loggia als Mr. Eddy wird hier zum Wiedergänger von Dennis Hopper aus Blue Velvet . Das Horrorkabinett des David Lynch bietet für Freunde der Psychoanalyse ein Kreuzworträtsel der Symbole. Viele werden Abwehrmechanismen gegen Lynchs subtile Strategien entwickeln. Wieder andere werden nach einer emotionalen Roßkur irgendwie erleichtert das Kino verlassen. Auf jeden Fall wird Lost Highway das Publikum spalten - und das passiert nur noch viel zu selten im Kino.
Martin Schwickert
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