Halt auf freier Stecke Der Alltag des Sterbens Andreas Dresens ungemein ehrlicher Film über ein schwieriges Thema nähert sich dem Tod auch mit Humor Es wird viel gestorben im Kino, aber der Weg vom Leben in den Tod, wie er auf der Leinwand vermessen wird, hat nur selten etwas mit der Realität des Sterbens zu tun. In Halt auf freier Strecke geht Andreas Dresen diesen Weg in ganzer Länge ab und kommt dabei der Wahrheit des Sterbens so nahe, wie man es im Kino noch nicht gesehen hat. Schon in der ersten Szene, in der die Diagnose eines unheilbaren Hirntumors mitgeteilt wird, werden alle Mauern eingerissen. Es ist keine melodramatische Verkündung. Im Gegenteil ist es gerade die scheinbar vollkommene Normalität der Situation, die alle Abwehrschilder des Zuschauers durchbricht: Die ungelenken Sätze des Arztes, der solche Gespräche schon oft geführt hat und trotzdem nicht die richtigen Worte finden kann, das schmerzhaft lange Schweigen und die unbeholfenen Fragen des Patienten, die sich daran anschließen, sein Bemühen, im freien Fall nicht die Fassung zu verlieren - ganz ohne dramatische Verstärkereffekte entfaltet die Szene ihre emotionale Kraft und setzt den Ton der Erzählung, die mit einer Mischung aus Empathie und Nüchternheit das Schicksal seiner Figuren verfolgt. Frank und Simone sind Menschen wie man sie jeden Tag sieht, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Er arbeitet im Paketversand, sie als Straßenbahnfahrerin. Mit ihren beiden Kindern Lilli und Mika sind sie gerade in ein schmales Reihenhaus am Berliner Stadtrand gezogen. Laminatböden, Ikea-Möbel, Autobahnanschluss und ein unverbauter Blick in eine unspektakuläre Landschaft. Ein paar Monate, vielleicht auch ein Jahr bleiben Frank noch, und die ersten Einschränkungen, die der Tumor in seinem Kopf auslöst, sind schon deutlich spürbar. Was folgt, sind Stationen des Abschiedes. Angefangen damit, dass man die Kinder und Eltern informieren muss, den Spind auf der Arbeitsstelle ausräumt und irgendwann die Kraft fehlt, das Hochbett im Kinderzimmer aufzubauen, die Haare von der Chemotherapie ausfallen und der Tumor langsam die Regentschaft im Kopf übernimmt. Halt auf freier Strecke spart nichts aus, weder die Verzweiflung noch die Normalität, die das Leiden nach einer Weile bekommen. Wenn der Ausflug ins Indoor-Paradies "Tropical Island" platzt, weil der Vater von einer Tumorattacke niedergestreckt wird, ist die Enttäuschung in den Gesichtern der Kinder stärker zu sehen als das Mitgefühl für ihren kranken Vater. Als Franks Gedächtnisfähigkeiten nachlassen, pinkelt er auch schon einmal ins Zimmer seiner Tochter. Danach wird alles im Haus mit Zetteln beschriftet, und auch Frank bekommt einen auf die Stirn, auf dem "Papa" steht. Die Familie entscheidet sich, dass der Vater nicht im Hospiz, sondern zu Hause sterben soll. Eine Palliativmedizinerin steht beratend zur Seite, und genau wie der Neurologe zu Beginn des Filmes ist die Rolle mit einer Ärztin besetzt, die auch im echten Leben in diesem Bereich arbeitet. Man spürt das in den Dialogen, die in Improvisationen entstanden sind. Die Methode, die Dresen schon in Halbe Treppe verwendete, bewährt sich in diesem Film und führt zu einer emotionalen Wahrhaftigkeit, wie man sie im Kino nur selten erlebt. Großen Anteil haben hieran natürlich die Schauspieler, die sich darauf einlassen: Milan Peschel, der hier sein exzentrisches Image weit hinter sich lässt, die wunderbare Steffi Kühnert oder auch Thorsten Merten, der als Tumor auftritt, der bei Harald Schmidt damit prahlt, dass er längst die Kontrolle über Franks Hirn übernommen hat. In diesen surrealen Exkursen wechselt Dresen kurz in die distanzierende Außenperspektive und bricht gezielt den empathischen Blick auf das Geschehen. Halt auf freier Strecke ist ein aufwühlender, aber ungeheuer bereichernder Film, dem es gelingt, den Tod als Teil des Lebens erfahrbar zu machen. Als die Tochter sich am Totenbett von ihrem Vater verabschiedet hat, sagt sie nach einer kurzen Pause zu ihrer Mutter: "Ich muss zum Training". Einen besseren Schlusssatz kann man sich nicht vorstellen. Martin Schwickert D 2011 R: Andreas Dresen B: Cooky Ziesche K: Michael Hammon D: Milan Peschel, Steffi Kühnert, Talisa Lilli Lemke
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