DER GLÖCKNER VON NOTRE DAME


Große Oper

Disneys Weihnachtsfilm - gewaltiger als alle seine Vorgänger.

Eine traurige Geschichte, die des Glöckners. Am Grab der Geliebten zu sterben, zuletzt, das ist zwar einerseits gewiß auch ein romantisches Ideal, wegen der Tragik und der Ausweg- und Hoffnungslosigkeit der Liebe, und weil dabei allerlei ideelle, weltanschauliche und sonstwelche Gründe eine Rolle spielen. Und es gibt kluge Leute, die sagen, daß wir die Moderne allein aus jenem Grunde noch nicht erreicht haben, weil wir die Romantik noch längst nicht überwunden haben. Aber andererseits ist Victor Hugos "Notre Dame de Paris. 1482", Der Glöckner von Notre Dame ganz bestimmt keine Disney-Geschichte. Eigentlich. Andererseits: Was sollte die wohl erfolgreichste Filmproduktionsfirma der Welt, die Walt Disney Feature Animation, daran hindern, diese Geschichte für ihre Zwecke umzumodeln? "Wenn wir uns nach Geschichten umsehen, die wir als Zeichentrickfilm umsetzen können, suchen wir nach großer Dramatik und interessanten Figuren", sagt Disney-Produzent Don Hahn. "Die Geschichte handelt davon, was die Seele eines Menschen bewegt, und das ist es, was uns alle wirklich anspricht", meint Roy Disney, der Chef. "Wie immer haben wir das Wesentliche dessen, was wir von der Geschichte erzählen wollten, genommen und es in unser Medium umgesetzt." Womit sich die im Grunde irrelevante Frage nach der Werktreue erledigt haben dürfte. Es kommt darauf an, was man mit seinem Medium erreichen kann, und was man sagen will. Und: für wen.
Hier allerdings könnte es doch zu einem Mißverständnis kommen. Immerhin standen Disney-Zeichentrickfilme einige Jahrzehnte für unverfängliche Familienunterhaltung mit einer gewissen systemkonformen Botschaft. Und auch wenn Der Glöckner von Notre Dame seine Qualitäten hat: Familien mit kleineren Kindern sollten sich einen gemeinschaftlichen Kinobesuch genau überlegen. Es besteht die Gefahr, daß sich idyllisierte Kleinkinder vor der Zeit in die Schlechtigkeit des Lebens geworfen fühlen könnten und entsprechend mit Alpträumen, bösen Fragen und umfassendem Unwohlsein reagieren. Und das liegt an der Mutwilligkeit, mit der die untilgbar finsteren Stoffbestandteile inzeniert worden sind, und an den unbeantworteten Fragen. Wie der nach dem Glück des Quasimodo, der doch viel netter und lustiger ist als der doofe und konventionelle Phoebus, warum - zum Beispiel - Quasimodo seine Liebe zu Esmeralda so fix vergißt, obwohl ihn doch vorher allein seine Gefühle zu der quirlig-attraktiven Rebellin am Laufen gehalten haben. Und was wollen Sie, wollt Ihr - als Eltern von heute - Euren aufgeweckten Sprößlingen erzählen? Daß die Gesetze des Genres eben so sind? Der Bucklige kriegt nie die Sex-Bombe; er kann froh sein, wenn ihn die Gemeinschaft als menschliches Wesen anerkennt.
In Wirklichkeit ist das natürlich kein Grund, warum Der Glöckner von Notre Dame als Kinderfilm ungeeignet sein könnte. Das ist schon fast Subtext, und da wollen wir es nicht so genau nehmen. Nein, die Verstörung der Kleinen wird schon mit dem Anfang beginnen. Da sehen wir, begleitet von höchst dramatischer Musik, wie ein Finstermann eine Gruppe von Zigeunern verfolgt, fies austrickst, und zu Pferde eine besonders renitente junge Frau durch die Gassen der Stadt jagt. Diese Frau trägt ein Bündel. Der Finstermann glaubt, daß es sich um einen Schatz handelt, und auf den Stufen der Kirche Notre Dame stellt er sie endlich. Der Finstermann tötet die Frau - deutlich - und reißt das Bündel an sich. Heavy Stuff für die jüngeren und unerfahrenen unter uns, auch wegen der Inszenierung.
Der Glöckner von Notre Dame ist eine große Oper, es wird eher noch mehr als sonst bei Disney gesungen, was manchmal sehr beeindruckend ist, wie beim Intro oder ganz besonders der Kaminarie "Heaven's Light / Hellfire", wo der böse Richter Frollo seine Seelenabgründe in einem Krawallstück fast wagnerianischen Ausmaßes nach außen kehrt. Manchmal nerven die Lieder aber auch nur - wie immer bei Disney. Und was die deutsche Synchronisation daraus macht, mit André Eisermann als Quasimodo und Klaus Jürgen Wussow (der auch singt) als Frollo, entzieht sich unserer Kenntnis.
Der Glöckner von Notre Dame setzt die junge Tradition von Die Schöne und das Biest fort, was sich nicht nur an maßgeblichen Stabmitgliedern erkennen läßt, sondern auch an der unverhohlenen politischen Botschaft. Die ist natürlich nicht gerade revolutionär, es geht mehr um menschliche Werte wie Toleranz usw., für Disney-Verhältnisse beinahe radikal formuliert. Und Quasimodo selbst ist das wohl niedlichste Monster der Filmgeschichte (sehen wir einmal von Caspar ab); den Markstrategen war er aber offensichtlich immer noch zu monströs. Jedenfalls ist er auf dem Werbematerial auffallend selten zu sehen.
Tja, und technisch? Darüber brauchen wir kein Wort zu verlieren, auch Der Glöckner von Notre Dame setzt wieder Maßstäbe: Die Fahrten noch glatter und sensationeller, die Animation makellos, die Charaktere bis in die kleinsten Nebenrollen durchgestylt, vom Ohrring von Esmeraldas Ziege Djali bis zur "steinernen" Physiognomie der Gargoyles - perfekt. Daß uns diese Perfektion gleichzeitig auch seelenlos erscheint, kann bei einem Industrieprodukt gar nicht anders sein.

Jens SteinbrennerÜÜÜ