Ginger und Rosa Atomtod und Freie Liebe Sally Potters Portrait der sechziger Jahre Der Tag, an dem Ginger und Rosa geboren werden, ist der Tag, an dem die USA die Atombombe über Hiroshima abwerfen, der Zweite Weltkrieg zu Ende geht und ein anderer, ein kalter Krieg beginnt. Der Schatten der atomaren Bedrohung hat die beiden Mädchen ein Leben lang begleitet und die latente Angst vor einem neuen, alles vernichtenden Krieg rückt im Jahr 1962 in greifbare Nähe, als sowjetische Schiffe mit atomaren Raketen beladen Kurs auf Kuba nehmen. Da sind Ginger (Elle Fanning) und Rosa (Alice Englert) gerade mal 17, - ein Alter, in dem man seine Lebensträume zu entwickeln und nach der Welt zu greifen beginnt. Die beiden Freundinnen sind unzertrennlich und tun gemeinsam alles, was Mädchen im London der frühen Sechziger so tun: Mit Jeans in die Badewanne steigen, die langen Haare mit dem Bügeleisen glätten, die ersten Zigaretten rauchen und kichernd zu den Jungs hinüberschielen. Das Jahr 1962 wird für die Freundschaft zur Bewährungsprobe. Während sich Ginger zunehmend der aufkommenden Bewegung gegen die nukleare Aufrüstung anschließt und mit der Kubakrise den Weltuntergang herannahen sieht, interessiert sich Rosa vornehmlich für das andere Geschlecht und verliebt sich ausgerechnet in Gingers Vater Roland (Alessandro Nivola). Der Schriftsteller und Literaturdozent ist als Freigeist seiner Zeit weit voraus. Dem mörderischen Dienst am Vaterland hat er sich während des Zweiten Weltkrieges verweigert und pflegt seitdem einen existenzialistisch-hedonistischen Lebensstil, unter dem vor allem seine Frau Natalie (Christina Hendricks) zu leiden hat. "Du bist eine geborene Radikale", sagt er zu Ginger, die sich geschmeichelt fühlt, auch wenn sie nicht so recht weiß, was sie mit dem Kompliment anfangen soll. Für sie fällt die Welt auseinander, als sich die Kubakrise zuspitzt und der Vater eine Liebesbeziehung mit ihrer besten Freundin anfängt. In Ginger & Rosa verschränkt die britische Regisseurin Sally Potter eine intime Geschichte über eine Mädchenfreundschaft und den beginnenden Prozess des Erwachsenwerdens mit den weltpolitischen Ereignissen des Kalten Krieges. Daraus entsteht ein hochsensibles Lebensgefühlporträt der frühen sechziger Jahre. Aus der Sicht der pubertierenden Ginger wird die Stimmung jener Zeit erkundet, die einerseits durch die Möglichkeit eines Nuklearkrieges im Fatalismus zu versinken droht, in der sich aber andererseits der Befreiungsschlag der wilden Sechziger schon ankündigt. In den jugendlichen Gefühlswallungen spiegeln sich die historischen Verwerfungen. Die Welt steht genauso Kopf wie das Gemüt des rothaarigen Mädchens, das die fabelhafte Elle Fanning mit einer umwerfenden Präsenz und emotionalen Transparenz spielt. Sally Potter, die mit der Virgina-Woolf-Verfilmung Orlando Filmgeschichte geschrieben hat, gilt als eine der wichtigsten Regisseurinnen des britischen Kinos und hat mit verschlungenen Erzählstrukturen oder Dialogen im jambischen Versmaß stets auch Mut zum Kunstkino bewiesen. Mit seiner geradlinigen Erzählweise ist Ginger & Rosa deutlich zugänglicher als die Vorgängerwerke. Der realistisch gehaltene visuelle Stil lässt das Zeitkolorit ganz gegenwärtig erscheinen, und die elegant geführte Handkamera unterstützt den subjektiven Blick auf die Historie. "Wir sind Teil von allem, und alles ist ein Teil von uns", sagt die Regisseurin. Das schlichte Credo ist ein Bekenntnis zur Komplexität, mit Ginger & Rosa ist es Potter gelungen, das diffizile Wechselverhältnis zwischen Privatem und Politischem organisch in den Fluss des Lebens einzubetten. Martin Schwickert GB 2012 90 min R&B: Sally Potter K: Robbie Ryan D: Alice Englert, Elle Fanning, Alessandro Nivola
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