GEORGIA


Depression und volles Haus

Die eine singt, die andere nicht

Eine Warnung vorweg: Wer mit Folk-Rock-Musik nichts anzufangen weiß und außerdem Jennifer Jason Leigh nicht leiden kann, wird auch diesen Film nicht mögen. Die Hauptrolle in Ulu Grosbards neuester Regiearbeit ist maßgeschneidert auf die junge Schauspielerin. Kein Wunder, denn Jennifer Jason Leigh tritt selbst als Produzentin auf, und Mutter Barbara Turner hat das Drehbuch geschrieben. Sehr familiär ging es also in dieser Produktion zu, und allzu familiär ist auch das Thema von Georgia.
Sadie (eben Jennifer Jason Leigh) ist sehr bleich und ein wenig abgemagert, wie es scheint. Die Ringe unter ihren Augen sind hart erarbeitet in durchzechten Nächten. Das Leigh-typische Make Up (heftig viel schwarzer Kajal drumherum) darf auch hier nicht fehlen. Da steht sie, die Handgelenke mit Ketten und Armreifen beschwert, darunter vermutet man wundgescheuerte Nervenstränge. Da steht sie auf der Bühne und singt sich die Seele aus dem Leib und das so falsch es nur irgend geht. Sadie hat nachweislich kein Gesangstalent, und zu ihrer selbstzerstörerischen Lebenslogik gehört, daß sie nun gerade ausgerechnet als Sängerin zu dem gelangen will, was alle wollen: Glück, Ruhm, Anerkennung, Geld.
Georgia hat dies alles: eine glasklare Stimme, volle Konzertsäle, ein schönes sauberes Haus mit Einbauküche, eine schrecklich nette Familie, einen Mann, der sie liebt und managt. Georgia (Mare Winningham) ist in allem das zweihundertprozentige Gegenteil von Sadie - Georgia ist Sadies große Schwester.
In eher mäßigem Erzähltempo wird diese komplizierte Schwesternbeziehung seziert: Sadies Bewunderung für Georgia und das Bemühen, dahinter den Neid zu verstecken. Georgias großherzige, aber leidenschaftslose Versuche, der kleinen Schwester zu helfen. Dazwischen immer wieder Gigs: Sadie tingelt durch die Musikszene Seattles von einem drittklassigen Klub zum nächsten, versackt und versumpft zusehends (Drogen und so), während Georgia die Fans in ausverkauften Häusern begeistert.
Zwischendrin gibt es einen kurzen Lichtblick in Sadies Leben am Rande des Abgrunds. Der Lichtblick heißt Axel. Er liefert ein paar Lebensmittel frei Haus und bleibt. Axel (Max Perlich) ist Sadies einziger echter Fan. Aus irgendeinem Grund bewundert dieser junge Mann mit dem schlichten Gemüt die dauerdepressive Sängerin. Axel leert den Aschenbecher aus, räumt die Gläser vom Tisch und alle möglichen Hindernisse aus Sadies chaotischem Lebenslauf. Axel ist naiv, aber nicht dumm, und noch nie habe ich in einem Film einen Mann soviel Gutes tun sehen, ohne daß er dabei zum Trottel gemacht wurde. Doch irgendwann gibt auch er auf, verreist für ein paar Wochen und wird nicht mehr zurückkommen. Auch er kann Sadie nicht retten, genauso wenig wie diese wunderbare Nebenfigur diesen Film retten konnte.
Denn schon bald hat man einfach genug von der ausgiebig zelebrierten schwesterlichen Differenz. Jennifer Jason Leigh spielt sich zwar um Kopf und Kragen und kommt in schauspielerisch beeindruckender Weise auf den Hund, aber irgendwie hat man sie schon zu oft als lallendes Nervenbündel auf der Leinwand gesehen.
Als Psychogramm einer komplizierten Geschwisterbeziehung bleibt Georgia unglaubwürdig, weil der Film zwar beharrlich auf der Unterschiedlichkeit der beiden Schwestern herumreitet, an keinem Punkt der Geschichte jedoch familiäre Gemeinsamkeiten eingestanden werden. Erst solcherlei Widersprüche könnten diese musikalisch untermalte therapeutische Sitzung interessant werden lassen. Und so hat man, wenn Georgia und Sadie sich gegen Ende des Films endlich anschreien, bis dahin längst das Interesse an dieser eindimensionalen Konfliktkonstellation verloren.

Martin Schwickert