GANGS OF NEW YORK Straßen in Flammen
Amerika geht über Leichen, sogar die eigenen
Das Interview zum Film
Das ist ja besser als Shakespeare, sagt eine der Personen im Film - aber nicht an der "Theater"-Stelle, an der die Personen im Stück ein Stück ansehen und dann mit altem Gemüse nach den Bühnendarstellern werfen. Nein, Martin Scorseses Gangs of New York ist nicht besser als Shakespeare, aber der Film will und die Gangs sie wollen es so unbedingt sein, dass im Scheitern allein schon allerlei Grösse liegt. Zum Beispiel am Anfang. Wie aus der Urzeit im stummen Marsch steigen sich bewaffnende Gestalten herauf, Fackellicht flackert, Eisen und Leder machen kampfbereite Geräusche, und ein Kriegerkönig (Liam Neeson) vermacht seinem Kind das Rasiermesser, mit dem er sich gerade ins eigene Fleisch geschnitten hat. Vorbereitungen für eine Straßenschlacht im Schnee zwischen Neu- und Alt-Migranten, Iren und weißen "Ureinwohnern". Die bricht beeindruckend los, der winterliche Platz färbt sich vom Blut, Kameramann Michael Ballhaus kreistanzt furios durch das Gemetzel, die heldenhafte Seite verliert, unter anderem das Leben des Chefs, dessen Sohn schwört Rache und geht ins Exil. Der Sieger aber ist ein einäugiger Riese (Daniel Day-Lewis), der sich selber als das bessere Amerika sieht. Ab da geht alles seinen Genre-Gang. Der Sohn kehrt als Leonardo DiCaprio mit Königsmordgedanken zurück, Cameron Diaz steht bzw., liegt zwischen den Fronten, und was im ersten Anlauf die Katastrophe nur schlimmer macht, liefert im zweiten die Lösung. Beinahe. Denn hinter der aufs Private verknappten Banden-Chronik aus New Yorks Halbstarken-Tagen (in den 1860er Jahren, während andersow der Bürgerkrieg tobt) blitzt immer wieder der Versuch auf, auch die größere politische Geschichte im Straßenpflaster zu spiegeln. Wie Honoratioren die Iren als Stimmvieh einkaufen und ausbluten, wie die vielen Feuerwehren mit Schutzgelderpressung neue Schläuche kaufen, was die Armen gegen Abraham Lincolns Negerkrieg aufbringt ... gegen Ende verschwindet sogar der archaische konkrete Konflikt hinter dem modernen nationalen, die Staatsmacht kartätscht alles nieder, was wie ein Aufstand gegen die Union aussieht. Erstaunlich immerhin, wie hymnisch dieser bitterböse Kitsch in Teilen der USA gefeiert wurde. Andere kritisierten historische Ungenauigkeiten oder Auslassungen, wieder andere, na, eigentlich alle stehen staunend vor den hinreissenden Bildern und Szenen-Kompositionen. Fürs Auge ist Gangs of New York ein Fest, dem nur die Pausentaste fehlt. Für den Kopf ist's ein Fressen mit viel Biss aber ohne Substanz. Und wo das Herz sein sollte, klafft ein Loch. Vielleicht wegen der chaotischen Produktionsgeschichte, in der sich Geldgeber, Regisseur und zweiter Star viel geprügelt haben sollen, bis in den Endschnitt hinein. Einige Szenen der deutschen Version wirken jedenfalls kastriert, und auch wenn Scorsese bestritt, einen Directors Cut für die DVD im Schrank zu haben, hey, Jungs, wollen wir mal rübergehen und mit dem Knüppel in der Hand selber nachsehen? Keine Regeln, außer: keine Pistolen.
WING
USA/GB/I/D/N 2002, 168 Min., R: Martin Scorsese, B: Jay Cocks, K: Michael Ballhaus, D: Daniel Day-Lewis, Leonardo DiCaprio, Cameron Diaz, Jim Broadbent, Brendan Gleeson, Liam Neeson
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