»FELICIA, MEIN ENGEL«

Kleine Morde

Neue Beobachtungen von Atom Egoyan

Dass Felicia nicht in diese marode englische Industrielandschaft gehört, erkennt man auf den ersten Blick. Mit ihrem knielangen Rock, den von der Kälte geröteten Backen und dem geschulterten, kleinen Rucksack sieht sie aus wie die Unschuld vom Lande. Und das ist sie auch. Aus einem kleinen irischen Nest ist die 17jährige ihrem Johnny hinterhergereist. Einmal nur haben die beiden sich geliebt, dann ist Johnny mit dem Bus abgefahren und ließ nie wieder von sich hören. Jetzt ist Felicia schwanger, von ihrer Familie verstoßen und auf der Suche nach der ersten Liebe ihres Lebens.

Auch der dicke Mr. Hilditch scheint nicht aus dieser Welt. Alles an ihm ist altmodisch: sein Auto, sein Anzug, seine Umgangsformen und die Einrichtung des übermöblierten Hauses sind aus den 50er Jahren. Damals war Hilditch noch ein dicker, ungeliebter Junge und seine Mutter eine bekannte Fernsehköchin. Abend für Abend schaut er sich die Aufzeichnungen ihrer französischen Kochshows an, bereitet ein opulentes Dinner genau nach Mutterns Vorgaben, um es bei Kerzenlicht allein zu verspeisen. Hilditch hat einen Blick für verlorene Mädchen, und Felicia fällt ihm sofort ins Auge. Er bietet der Ausreißerin seine Hilfe an. Zögernd läßt sich Felicia auf die Angebote des gütigen Alten ein, der sie schließlich sogar zu einer Abtreibung überreden kann. Hilditch hat Erfahrung mit solchen Fällen. Acht Mädchen hat er schon geholfen und keines hat sein Haus wieder lebend verlassen ...

Wer nun einen reißerischen Serienkiller-Thriller erwartet, sitzt mit Sicherheit im falschen Film. Der kanadische Regisseur Atom Egoyan ( Das süße Jenseits ), der hier einen Roman von William Trevor bearbeitet hat, interessiert sich weniger für den Nervenkitzel als für die Topografie des Täter-Opfer-Verhältnisses. In einer vielschichtigen Rückblenden-Collage setzt Egoyan die Geschichte der Figuren mosaikartig zusammen. Hilditch ist kein Monster, sondern ein fast schon sympathischer Exzentriker, dessen dunkle Seiten Stück für Stück entblättert werden. Bob Hoskins, den man sonst eher aus gutmütigen Kumpelrollen kennt, legt in seiner Figur Perversion und Normalität so beängstigend dicht nebeneinander, dass auf schockiernde Effekte verzichtet werden kann. Felicia (hervorragend: Elaine Cassidy) wiederum wird nicht als hilfloses Opfer dargestellt, sondern wächst in der Situation schleichender Bedrohung aus ihrem naiven Teenager-Dasein heraus. Verglichen mit Egoyans Das süsse Jenseits oder Exotika erscheint Felicia, mein Engel eher als strenge, stilsichere Fallstudie, der allerdings die intellektuelle Vielschichtigkeit früherer Filme fehlt.

Martin Schwickert