FAHRENHEIT 9/11


Verfall der Sitten

Michael Moore schlachtet George Bush

Wer einmal eine Bush-Ansprache zur Lage der Nation im Fernsehen verfolgen konnte, hat sich das wahrscheinlich schon immer gefragt: Wie lange hat der Mann für diesem bierernsten Gesichtsausdruck, mit dem er seine politischen Plattitüden serviert, geprobt? In Michael Moores Fahrenheit 9/11 kann man dem US-Präsidenten wenige Minuten, bevor die Kamera am Abend des 11. September 2001 auf Sendung gehen, beim Einstudieren zusehen. Er übt das besorgte Stirnrunzeln, den bohrenden Blick, die heruntergezogenen Mundwinkel, und kann sich an dem Abend, an dem die ganze Welt den Atem anhält, das Lachen nicht verkneifen.
Natürlich ist es nicht die feine dokumentaristische Art, solche Aufnahmen für die eigenen politischen Zwecke auszuschlachten, aber diese Bilder haben eine Aussagekraft, die über die Polemik hinausgeht. Sie geben einen sinnlichen Eindruck vom Showgeschäft der Politik, vom Zynismus der Macht und der Sorglosigkeit, mit der sie ausgeübt wird.
Moore zeigt Bush-Bilder, wie man sie im korrumpierten US-Fernsehen nicht zu sehen bekommt. An dem Morgen, als die beiden Flugzeuge in die Twin-Towers gesteuert wurden, war Bush bei einen Repräsentationsbesuch in einem Kindergarten. Ganze sieben Minuten lang blättert der US-Präsident, der gerade die Nachricht von dem Anschlag erhalten hat, in einem Kinderbuch. In Bushs Gesicht spiegelt sich das blanke Nichts. Daneben läuft die Uhr. Da kann sich das Publikum das Lachen nicht verkneifen. Aber beim zweiten Nachdenken bleibt es einem auch schon wieder im Halse stecken.
Genau dies ist die Rezeptionsmechanik, mit der Moore in all seinen Filmen arbeitet. Das Lachen bereitet den Weg zur politischen Reflexion. Sicher: Moore ist ein Propagandist, einer der populär polemisiert. Und selten war ein Moore-Film von einer solchen Häme durchtrieben wie Fahrenheit 9/11. Aber der Propaganda-Vorwurf, der von Kritikern in Cannes, wo der Film die Goldenen Palme gewonnen hat, erhoben wurde ("Die Welt" hat sogar ein Goebbels-Zitat kunstvoll in ihre Kritik eingeflochten) relativiert sich, wenn man sich vor Augen führt, wer hier dekonstruiert wird.
Bush ist nicht irgendein wehrloses, kleines Würstchen. Er ist der mächtigste Mann der Welt, der - und auch das zeigt Moores Film - sich hemmungslos eine ganze Amtsperiode lang finsterster Propaganda-Methoden bedient hat.
Die Frage nach dem Verfall der Sitten im Dokumentarfilm ist berechtigt. Die Frage nach der Legitimität der Polemik erübrigt sich angesichts des Sujets. Im Grunde ist Fahrenheit 9/11 kein Dokumentarfilm, sondern, wie alle Moore-Filme, ein Essay mit klarer politischer Stoßrichtung. Gnadenlos listet Moore Bushs politisches Sündenregister auf und zeigt dessen unheilvolle finanzielle Verflechtung mit saudi-arabischen Geldgebern. Moore wird auch in diesem Film nicht müde, die große Politik mit dem Schicksal der kleinen Leute zu konfrontieren. In schmucken Paradeuniformen durchkämmen die Rekrutierungs-Offiziere der US-Armee die schlechten Wohngegenden. Dort werben sie die Verlierer einer verfehlten Sozialpolitik an, die dann im Irak ihren Kopf für eine noch verfehltere Außenpolitik hinhalten müssen. Für die Opfer des Irakkrieges auf beiden Seiten der Front nimmt Moore sich Zeit und zeigt die persönliche Brutalität des Politischen.
Eigentlich erzählt Moore nichts Neues. Vom Wahlbetrug in Florida bis hin zur Invasion im Irak unter Vortäuschung falscher Tatsachen. Man weiß das alles. Aber gerade am Beispiel des Irakkrieges zeigt sich, wie geschickt durch eine lang anhaltende Medienkampagne die Empörung der Welt über diesen angekündigten Krieg klein geredet wurde. Die Qualität von Moores Film ist, dass er seinen Zuschauern die politische Empörung zurück gibt und mit den Mitteln der Mediengesellschaft gegen deren Abstumpfungsprozesse ankämpft.

Martin Schwickert
USA 2004 R&B: Michael Moore K: Mike Desjarlais