»eXistenZ«

Bio-Computer

David Cronenberg verwischt die Realität

Das Computerspiel zum Film gehört schon längst zum Standardinventar der Merchandising-Kampagnen, oftmals wird mit der Software-Variante eines Films mehr Geld gemacht als an der Kinokasse. Trotzdem hat es lange gedauert, bis die virtuellen Spielwelten in die Drehbucher des Mainstreams eingedrungen sind. In diesem Jahr haben sich drei Filme dem Cyberspace verschrieben: Matrix von den Wachowski-Brüdern wirbelte mit einem Feuerwerk die Wirklichkeitsebenen durcheinander, demnächst folgt der eher überschaubare 13th Floor , der seine Zuschauer in streng didaktischer Mission auf Zeitreise schickt. Der mit Abstand intelligenteste Beitrag zum Thema kommt nun mit David Cronenbergs eXistenZ in die Kinos.
Der kanadische Horrorphilosoph siedelt seine Story in einer nicht allzu fernen Zukunft an, in der die Computertechnik mit dem menschlichen Körper symbiotisch verbunden ist. Eine nabelschnurähnliche Verbindung wird über den sogenannten Bioport direkt ins menschliche Rückenmark eingestöpselt und das Spiel ergreift Besitz vom kompletten Vorstellungs- und Wahrnehmungssystem seiner Benutzer. Allegra Geller (Jennifer Jason Leigh) ist die Gottmutter unter den Spieledesignern und sie stellt einem ausgewählten Kreis von Probanden ihre neueste Entwicklung vor: "eXistenZ" verspricht einen virtuellen Psychotrip in die eigenen Ängste und Fantasien. Der Pilotversuch wird jedoch von fanatischen Computerspiel-Gegnern sabotiert. Allegra Geller wird angeschossen und flüchtet mit dem etwas naiven Bodyguard Ted (Jude Law) vor der Fatwa der sogenannten Realisten.
Die Spieldesignerin überredet den im Cyberspace völlig unerfahrenen Begleiter, "eXistenZ" zu Reparaturzwecken zu testen, und es beginnt eine Fantasy-Reise, in deren Verlauf für Spieler und Kinozuschauer die Grenzen zwischen Wirklichkeit und fantastischer Fiktion aufgelöst werden. Mit dramaturgischer Finesse verschachtelt Cronenberg die filmischen Wirklichkeitsebenen spielerisch ineinander und schafft einen Zustand produktiver und humorvoller Verwirrung. Die Film- und Spielhandlung bleibt immer wieder an einzelnen Sätzen hängen, weil die Protagonisten nicht das genaue Stichwort zitiert haben, das für die Fortsetzung des Spiels notwendig ist.
Cronenberg verzichtet gänzlich auf blendende Spezialeffekte und fetischisierendes High-Tech-Design: keine Bildschirme, keine Drähte, kein Laser-Schnickschnack, keine bunt blinkenden Leucht-Dioden. Alle Technikverweise sind aus den Bildern verbannt. Die "Computer" in Cronenbergs eXistenZ sind rein organisch. Kabel sehen aus wie Nabelschnüre, und die "Gamepods", die die Spielteilnehmer liebevoll befummeln, gleichen leberförmigen Weichteilen aus Haut. Zur Herstellung der Hardware werden in abgelegenen Fabriken reptilienähnliche Mutanten ausgeschlachtet. In der Kantine wird glibberiger Gen-Tech-Salat serviert, und wenn die Spielteilnehmer das glitschige Ende der Nabelschnur in die enge Öffnung ihres "Bioports" einführen, wird das von einem Schauer der Erregung begleitet.
Wie in seinem letzten Film Crash wandelt Cronenberg auch hier wieder genussvoll an der voyoristischen Grenze zwischen Ekel und Erotik entlang, und wieder einmal wird die Verschmelzung von Mensch und Maschine zum Leitmotiv. Mit seinem originellen Cyber-Thriller verrennt sich Cronenberg jedoch keineswegs in eine moralisiernde Technikkritik. Vielmehr arbeitet er mit der Faszination, die das Medium Computerspiel ausübt, um dessen Mechanismen auf durchgehend humorvolle Weise zu dekonstruieren.

Martin Schwickert