EVE UND DER LETZTE GENTLEMAN


Verpasste Chancen

Die 60er kommen in die 90er.

Während sich die Jugend Anfang der 60er langsam auf die Rebellion vorbereitete, zementierte die Elterngeneration ihr Sicherheitsdenken in Form von unterirdischen Atomschutzbunkern. Auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges unterkellerten tapfere US-Familienväter emsig ihre Vorgärten und bauten sie zu luxuriösen Überlebensstätten für den nuklearen Ernstfall aus. Die Bunkeranlagen spiegelten den Zeitgeist zwischen Spießeridylle und Weltkriegsparanoia wieder. Heute - zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges - bieten sie eine optimale Kulisse für eine komödiantische Reise in dieses skurrile Jahrzehnt. Als am Abend des 22.Oktober 1962 Präsident John F. Kennedy in seiner Fernsehansprache zur Kubakrise einen möglichen Atomkrieg ankündigt, verbringt der Wissenschaftler Calvin Webber (Christopher Walken) mit seiner schwangeren Gattin Helen (Sissy Spacek) die Nacht präventiv im heimischen Atomschutzkeller. Wenig später stürzt ein Flugzeug über ihrem Haus ab und der etwas verschrobene Hausherr ist überzeugt, dass der Tag X gekommen ist. Knirschend schließt sich die zentimeterdicke Metalltür, das Zeitschloss rastet ein und für die nächsten 35 Jahre sind die Webbers in ihrem Bunker eingeschlossen. Hier unten ist für alles gesorgt: prall gefüllte Speisekammer, UV-beleuchtete Tomatenplantage und großzügig bemessene Martini-Vorräte. Abgeschnitten von der Außenwelt wird ihr Sohn Adam geboren und zu einem höflichen und gebildeten jungen Mann herangezogen. Über der Erdoberfläche zieht derweil die Zeit vorbei: das Eigenheim der Webbers wird durch eine Milchbar ersetzt, die sich in den 70ern in einen Discoclub, in den 80ern zu einem Heavy-Metal-Schuppen und in den 90ern zu einer heruntergekommenen Obdachlosenunterkunft wandelt. Als sich nach 35 Jahren das Zeitschloss öffnet, wird der arglose Adam hinausgeschickt, um Vorräte besorgen und eine Frau zur Aufrechterhaltung der Spezies zu finden. Die gepflegte Nachbarschaft von einst hat sich mittlerweile in einen verwahrlosten Rotlichtbezirk verwandelt. Ein Transvestit bietet Adam seine Dienste an. Der ist überzeugt, dass es sich hier um einen radioaktiv-verseuchten Mutanten handelt. Schließlich gerät Adam an die zynisch abgeklärte Eve (Alicia Silverstone). Sie führt den gutsituierten jungen Mann in die Gesetze der verrotteten 90er Jahre ein und findet langsam Gefallen an Adams naivem Charme.
Vor kurzem erst ließ Gary Ross in Pleasantville die verklärte Vergangenheit des sauberen Amerikas mit den amoralischen Härten der Gegenwartsgesellschaft kollidieren. Pleasantville entlarvte die lustfeindliche Ordnungssucht jener Jahre. Eve und der letzte Gentleman hingegen greift die kalte Abgeklärtheit der 90er an. Mit seiner unverdorbene Aufgeschlossenheit verstößt Adam gegen alle Regeln der modischer Coolness. Verzweifelt versucht er, unter Eves Anleitung, einen zeitgemäß desinteressierten Gesichtsausdruck zu erlernen.
Auch wenn Regisseur Hugh Wilson seine etwas rückwärtsgewandte Botschaft recht moderat inszeniert, ist Eve und der letzte Gentleman in erster Linie ein Film der verpassten Chancen. Die Anfangsszenen in dem wunderbar ausgestatteten Bunkerparadies der Webbers versprechen eine angenehm schrullige Komödie. Wenn sich dann jedoch die Tore zur Jetzt-Zeit öffnen, stürzt sich der Film Hals über Kopf in eine stümperhaft inszenierte, zutiefst unglaubwürdige Liebesgeschichte. Der Zusammenprall der unschuldigen 60er mit den versauten 90ern bietet eine Unzahl von humoristischen Möglichkeiten. Eve und der letzte Gentleman verschenkt die meisten davon, nur um unter dem Label der "romantischen Komödie" bestehen zu können.

Martin Schwickert