ESTLAND MON AMOUR

Sommerland
Ein seltsamer Dokumentarfilm über einen verschwundenen Bruder

Regisseurin Sibylle Tiedemann begibt sich auf die Spuren ihres 1996 in Estland unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommenen Bruders Klaus. Mit Mitte 30 brach der seine Zelte in Süddeutschland endgültig ab, um ein neues Leben in dem Land am finnischen Meerbusen zu beginnen, in einer Gegend, aus der die Familie des Vaters stammt. Für Klaus war Estland das Land seiner Träume, das Sommerland. Er lebte dort in einfachsten Verhältnissen, fast ohne Geld, mal in einem Sommerhaus, mal in einer Kammer über einer Garage, in der er schließlich den Tod fand.
In einer Montage von Privataufnahmen der Familie, einem Videotagebuch ihrer ersten Reise, unmittelbar nach dem Tod des Bruders, und Filmaufnahmen eines Besuchs in Estland sieben Jahre später, versucht die Regisseurin sich dem Leben ihres Bruders zu nähern.
Estland Mon Amour ist Familiendrama, Kriminalgeschichte und Roadmovie zugleich. Als Familiendrama scheitert er, weil er die Figuren nicht zu fassen bekommt. Zwar werden das gespannte Verhältnis zum Vater und das Scheitern eigener Geschäftsideen angesprochen, verfolgt wird aber nur das Bild eines naiven Träumers.
Ob der Tod des Bruders ein Kriminalfall ist oder nur ein Unfall, diese Frage bleibt unbeantwortet. Gleichwohl gelingt es Sibylle Tiedemann in Gesprächen mit Zeugen, einem Polizisten und dem Leichenbestatter unstimmige Details ans Tageslicht zu bringen. Zweifel scheinen gerechtfertigt, für Außenstehende ist das aber nur mäßig spannend.
Der Film ist sehenswert wenn er zum Roadmovie wird, wenn er die Menschen zu Wort kommen lässt, denen die Regisseurin während ihrer Reise begegnet. Im Gegensatz zu den sozialpädagogischen Mustern, mit denen Tiedemann das Verhalten ihres Bruders zu erklären versucht, entsteht durch die im radebrechenden Englisch geführten Gespräche ein differenzierteres Bild. Zwischen den Zeilen lässt sich erahnen, dass sein Aufbruch nach Estland auch eine Flucht vor dem Scheitern in Deutschland war.

sk
D 2004 R&B: Sibylle Tiedemann. K: Lars Barthel, Rainer Hoffmann, Kornel Miglus.