»EST-OUEST«

Verraten

Die Geschichte russischer Remigranten nach 1945

Als Stalin 1946 den russischen Emigranten in Frankreich die straffreie Rückkehr in die alte Heimat anbot, folgten Tausende seinem Ruf. Der idealistische Glaube, durch einen gemeinsamen Wiederaufbau des kriegsverwüsteten Landes auch die politische Wirklichkeit der UdSSR neu zu gestalten, waren der Antrieb für eine Heimkehr mit fatalen Folgen. Viele wurden schon bei ihrer Ankunft der Spionage bezichtigt und hingerichtet. Andere wanderten in Lager und Verbannung, nur wenigen gelang es, sich mit dem paranoiden Regime zu arrangieren.
Der französische Regisseur Regis Warnier ( Indochine ) erzählt die fiktive Geschichte des Remigranten Alexei (Oleg Menshikov) und seiner französischen Frau Marie (Sandrine Bonnaire). Bei ihrer Ankunft im Hafen von Odessa werden die Heimkehrer selektiert und von Geheimdienstlern brutal verhört. Dabei hat Alexei Glück. Er ist Arzt und die werden für den Wiederaufbau gebraucht. Die Familie wird nach Kiew verfrachtet und in einer heruntergekommenen Gemeinschaftswohnung untergebracht, die von einem bunten Gemisch aus Trinkern, Denunzianten und Schwarzmarkthändlern bevölkert wird. Während Alexei sich schon bald in einen opportunistischen Vorzeigesozialisten verwandelt, behält Marie ihre westliche Widerspenstigkeit. Alexei beginnt sogar eine Affäre mit einer benachbarten Denunziantin, was Maries Leben rettet und ihre Ehe zerstört. Marie verliebt sich in den blutjungen Schwimmer Sacha (Sergei Bodrov jr.), der die Europameisterschaft in Wien zur Flucht nutzen will und hofft, auch Marie außer Landes bringen zu können. Das Vorhaben scheitert und Marie wird in ein Lager deportiert. Erst Jahre nach Stalins Tod bietet sich dank der couragierten französischen Schauspielerin Gabrielle (Catherine Deneuve) eine erneute Möglichkeit zur Flucht.
Regis Warnier, der u.a. mit dem russischen Filmemacher Sergei Bodrov ( Gefangen im Kaukasus ) das Drehbuch entwickelt hat, entwirft mit Est-Ouest ein absolut konventionelles, aber im besten Sinne ergreifendes historisches Melodram. Est-Ouest konzentriert sich auf die Folgen, die der Terror der Stalinära auf die menschlichen Beziehungen hat. Auch ohne grausame Bilder aus den Lagern wird der Gulag als allgegenwärtige Bedrohung spürbar. Niemanden ist zu trauen. Denunzianten wollen umworben werden, alle Bekanntschaften werden auf ihre Funktionalität hin überprüft und selbst gute Freunde werden hinters Licht geführt, um ein Fluchtvorhaben zu realisieren. Alexei biedert sich dem System an, während Marie den Opportunismus ihres Ehemannes verabscheut. Beide verlieren auf eigene Weise ihre moralische Integrität. Sandrine Bonnaire stattet ihre Marie mit allen Facetten von Stolz und Enttäuschung aus und Oleg Menchikov gelingt es, mit einem freundlich undurchdringlichen Gesicht das Publikum bis zum Schluss über seine Figur im Ungewissen zu lassen.

Martin Schwickert