BILLY ELLIOT

Gegen Mauern

Ballett statt Boxen

Billys Vater ist Minenarbeiter. Seinen jüngsten Sohn schickt er zum Boxunterricht. Dort soll der Junge was fürs Leben lernen, denn das Leben im nordenglischen Kohlerevier im Jahre 1984 ist härter denn je. Der Streik der Bergarbeiter hat seinen Höhepunkt erreicht, die Kumpel liefern sich erbitterte Straßenkämpfe mit der Polizei. Der elfjährige Billy interessiert sich beim Boxen jedoch nicht für die gezielten Schläge, sondern für die tänzelnde Beinarbeit. Als er zufällig die Ballettschülerinnen beobachtet, die in derselben Halle von der kettenrauchenden Mrs. Wilkinson unterrichtet werden, ist es um ihn geschehen. Er hängt die Boxhandschuhe an den Nagel und schleicht sich heimlich zu den Tanzstunden. Mit ausgeleiertem Trainingsanzug tritt er als einziger Junge zwischen den Mädchen im Tutu an. Mrs. Wilkinson entdeckt sein Talent und protegiert ihn mit kostenlosem Einzelunterricht. Als der Vater von der Leidenschaft seines Sohnes erfährt, ist der Eklat perfekt. Im proletarischen Macho-Weltbild sind Balletttänzer als Schwuchteln verpönt, und ohnehin hat Dad andere Sorgen. Streikkassen und Kühlschrank sind leer, seit dem Tod seiner Frau kämpft der Vater auch gegen die eigene innere Leere an.

Stephen Daldrys Billy Elliot ist ein Erfolgsmärchen, eine Aschenputtelgeschichte, eine Variation des amerikanischen Traums im englischen Working-Class-Format. Wie oft hat man sie schon gesehen, die einfachen Leute aus den Backsteinsiedlungen, die ihre Träume gegen die widrigen britischen Verhältnisse durchsetzen: die beherzten Stripper in Ganz oder gar nicht , die Blechblaskumpel in Brassed Off , die Bingo-Ladys in Girls Night . Auch Billy Elliot ist eine dieser tragikomischen Geschichten, rührselig zuweilen, aber immer fest mit dem proletarischen Alltag verbunden.

Regisseur Stephen Daldry ist ein erfolgreicher Theatermann im Londoner Westend. In seinem Kinodebüt beweist er ein Gespür für die Balance zwischen großem Gefühl, trockenem Witz und sozialer Genauigkeit. Vor dem Hintergrund der größten Niederlage der britischen Arbeiterbewegung erzählt er vom unaufhaltsamen Aufstieg eines talentierten Bengels und lotet das Spannungsfeld dazwischen gründlich aus. Voller Wut tanzt Billy gegen die engen Mauern der Bergarbeitersiedlung an, während draußen Polizisten mit Knüppeln auf ihre Schilder schlagen, um die protestierenden Kumpel einzuschüchtern. Wenn Vater und Sohn aus der nordenglischen Provinz nach London reisen, um in der Royal Ballett School vorzusprechen, bewegen sie sich wie Außerirdische durch das hochherrschaftliche Gebäude. Gary Lewis als verstockter Familienvater und Julie Walters als rauhbeinige Tanzlehrerin verleihen ihren Figuren einen angenehm spröden Glanz. Der Schatz des Films ist jedoch Jamie Bell in der Rolle des ballettsüchtigen Billy, der sich mit einer unnachahmlichen Mischung aus Sensibilität und Rotzlöffeligkeit die Herzen des Publikums ertanzt.

Martin Schwickert

GB 2000 R: Stephen Daldry B: Lee Hall K: Brian Tufano D: Jamie Bell, Julie Walters, Gary Lewis. 122'