DER EISSTURM


Sofas zum Aufblasen

Ang Lees satirisches Portrait der 70er

Irgendwann Anfang der 70er Jahre, da war die Zeit gekommen und die sexuelle Revolution stand auch vor den Türen der spießigsten US-Vorstadtfamilien. Der befreiende Aufbruch der 68er war zur Mode geworden: Familienväter in Schlaghosen, Hausfrauen im Barbarella-Outfit, pubertierende Söhne und Töchter, die schon besser Bescheid wissen als ihre um Lockerheit bemühten Eltern und statt des Tischgebetes politische Reden halten.
Die Hoods sind eine Familie, die in den 50er/60er Jahren wahrscheinlich bestens zurecht gekommen wäre, aber die wilden Siebziger haben die familiären Spielregeln durcheinander gebracht. Benn Hood (Kevin Kline) betrügt seine Frau seit langem mit der Nachbarin Janey Carver (Sigourney Weaver). So recht begeistert sehen die beiden nach wiederholt vollzogenem doppelten Ehebruch allerdings nicht aus. Benn tuts, weils eben alle machen, Janey, weil ihr Gatte noch langweiliger ist als Benn. Das Abenteuer als Routineübung. Elena Hood (Joan Allen) erträgt in ihrer modern eingerichteten Küche das Hausfrauendasein und die müden Ausflüchte ihres Gatten immer weniger und tröstet sich mit Ladendiebstählen. Oben im Jugendzimmer kämpft Tochter Wendy mit pubertären Wirrnissen, und Sohn Paul stellt auf dem College Töchtern reicher Eltern nach. Während die lieben Kleinen sich erstmals gegenseitig in den Schritt fassen, führen die Alten auf Dinner-Partys schlüpfrige Gespräche oder veranstalten Partnertauschlotterien. In diesem Jahr, in dem Präsident Nixon als nationale Vaterfigur durch die Watergate-Affaire ins Wanken gerät, scheint das ganze Land im pubertären Ausnahmezustand zu leben. Zu den zwischenmenschlichen Desastern gesellt sich die Naturkatastrophe: einen Tag nach Thanksgiving bringt ein Eissturm die Verhältnisse in der Vorstadt ins Schleudern und die Komödie gleitet unmerklich ins tragische Fach.
Mit Der Eissturm ist Ang Lee, nach dem hübsch belanglosen Sinn und Sinnlichkeit ein brillantes Zeitportrait gelungen. Mit viel Liebe wird hier das Flair der 70er Jahre in Szene gesetzt: verchromte Küchengeräte, schunkelnde Wasserbetten, aufblasbare Sofas, pelzbesetzte Blazer, gigantische Hemdkrägen und viel viel Plastik. Sigourney Weaver im lila Hippie-Outfit als Wiedergängerin von Jane Fonda in ihren besten Zeiten sollte man keinesfalls versäumen. Trotzdem verliert der Film sich nicht in zeitgenössischer Raritätensammlei. Das verspielte 70er Jahre-Design bricht sich in kühler Atmosphäre und kaltem Licht. Ang Lee gelingt es meisterhaft tragische und komische Stimmungmomente, Ironie und Lebensweisheit ineinander zu flechten. Kevin Kline kann hier endlich einmal zeigen, daß er nicht nur zum Komödien-Heini taugt. Ausgesprochen liebevoll geht der Film mit den Schwächen seiner Figuren um, die auf der Suche nach sexueller Befreiung an der uneingestandenen Selbst-Überforderung scheitern. Wenn bei der "Key-Party" die Damen aus dem Hut die Autoschlüssel des Mannes herausziehen, mit dem sie - so die Spielregel - die Nacht verbringen werden, regiert gegenüber in der Herrenriege hinter der locker-lächelden Fassade die blanke Angst. Indem Ang Lee die wilden Siebziger aus der Perspektive des etablierten Spießertums zeigt, zeichnet er ein respektloses Portrait dieser gern und oft verklärten Epoche, die heute auf den Kleiderständern von H&M ihr müdes Revival feiert.

Martin Schwickert