EAST SIDE STORY


Tanzende Maschinisten

Eine dokumentarische Aufarbeitung realsozialistischer Musicalfilme

Kaum vorstellbar, aber doch nachvollziehbar: Reine Unterhaltungsfilme - überhaupt Musicals - waren im Ostblock verpönt. Nicht verboten, nicht unerwünscht - sogar im Gegenteil: erwünscht. Aber verpönt. Und das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Grundsätzlich war das Bedürfnis der Massen nach Ablenkung und Zerstreuung längst erkannt worden, die Eignung des Films als Propagandamittel war unbestritten, also hätte man doch die Propaganda und die Zerstreuung verbinden können. Hat man auch, aber eher selten. Die Entscheider in den Gremien, Kommissionen und Komitees befürchteten einerseits bürgerliche Verflachung und andererseits Subversion: Wenn Leute lachen, weiß man nie genau, worüber. Die größte Angst der Entscheider aber galt ihren Vorgesetzten. So war es einfach sicherer, zweifelhafte Filme zu verhindern. Auch, wenn die wirklich Mächtigen, Stalin zum Beispiel, ein Faible für Musicals hatten. Zum Beispiel Grigori Alexandrov, der Vater des Sozialistischen Musicals. Der war mit seinem Kollegen Eisenstein Anfang der Dreißiger nach Hollywood gereist, hat haufenweise Filme angesehen und sich mit US-Regisseuren angefreundet. Inspiriert vom kapitalistischen Filmschaffen und zurück in der UdSSR drehte Alexandrov 1934 das Musical Lustige Burschen, das wegen fehlender Ideologie sofort verboten wurde, was Alexandrov nicht hinnahm und Maxim Gorki um Hilfe bat. Gorki zeigte Lustige Burschen Stalin. Der befand, daß der Mensch, der es gewagt hatte, einen derart komischen Film zu drehen, ein wahrhaft mutiger Mann sein mußte. Lustige Burschen kam in die Kinos, Alexandrov bekam einen Orden und wurde fortan der Lieblingsregisseur Josef Stalins.
Diese und viele andere Anekdoten und Geschichten von sozialistischen Musicals werden in East Side Story erzählt, es gibt Auschnitte noch und nöcher: Kurioses und noch Kurioseres, tanzende Maschinistinnen, gut gelaunte Erntearbeiter, singende Ehefrauen auf dem Weg zur Selbstverwirklichung, verliebte Polizisten, Zonen-Elvis - heiter-beschwingtes von jenseits der Mauer eben. Das alles in der für West-Augen gelegentlich recht bizarren Ost-Ästhetik von vor mindestens 25 Jahren.
Dabei ist East Side Story kein reiner Kompilationsfilm à la Rendezvous unterm Nierentisch. Die Macher Dana Ranga und Andrew Horn haben einen durchaus filmhistorischen Anspruch, der East Side Story nicht nur überaus unterhaltsam, sondern auch wirklich interessant macht. Filmhistoriker, Süßwarenverkäufer, Schauspieler, Filmfunktionäre und andere Fachleute berichten in Interviews über ihre Erfahrungen, die Filmausschnitte werden von einem sanft ironischen Kommentar begleitet - nach East Side Story weiß man nicht nur mehr von Sozialistischen Musicals, man möchte auch gerne einmal das eine oder andere sehen. Und mehr kann man von einem filmhistorischen Dokumentarfilm kaum erwarten.

Jens Steinbrenner