Die Jagd

Gebrandmarkt

Vom Vorwurf, ein Kinderschänder zu sein: Thomas Vinterberg inszeniert das Treiben der Gutmenschen

In einer kleinen dänischen Gemeinde arbeitet Lucas (Mads Mikkelsen) in einem Kindergarten als Erzieher. Nach einer schwierigen Scheidung kommt er langsam wieder auf die Beine und versucht über die zweiwöchentliche Besuchsrechtsregelung hinaus ein gutes Verhältnis zu seinem pubertierenden Sohn aufrecht zu erhalten. Die Kinder auf der Arbeit mögen den Mann, mit dem man auch einmal ordentlich herumtoben kann.

Vor allem die kleine Klara (Annika Wedderkopp), die Tochter von Lucas altem Jugendfreund Theo (Thomas Bo Larsen), sucht immer wieder Trost bei ihm, wenn ihre Eltern sich streiten. Als sie dem Erzieher ein Herz aus Stoff schenken will und ihn auf den Mund küsst, weist Lucas sie freundlich, aber bestimmt zurück. Das Mädchen ist gekränkt, und weil tags zuvor der ältere Bruder ihr kurz ein Pornobild aus dem Internet vor die Nase gehalten hat, mischen sich die widersprüchlichen Gefühle zu einer gefährlichen Lüge: Klara erzählt der Leiterin des Kindergartens, Lucas habe ihr das Herz geschenkt - und seinen Penis gezeigt. Der Erzieher wird sofort vom Dienst suspendiert und in der kleinen Gemeinde spricht sich das vermeintliche Vergehen bald herum.

Je monströser ein Verdacht, desto schneller wird er zur Gewissheit. Und dies ist ein Vorwurf, von dem man sich nie wieder vollständig reinwaschen kann. Auch wenn die Polizei den Beschuldigten schon bald wieder frei lässt, glauben die Dorfbewohner nicht an seine Unschuld. Im einzigen Supermarkt bekommt Lucas Hausverbot, Freunde wenden sich von ihm ab und auch der Zugang zu seinem Sohn steht auf dem Spiel. Die Jagd fokussiert sich auf die Dynamik, die ein Missbrauchsvorwurf innerhalb eines engen sozialen Raumes auslöst. Dabei entsteht die Tragödie nicht aus bösem Willen, sondern aus den besten Absichten heraus. Vinterberg zeigt, dass elterliche Schutzinstinkte auch eine verheerende Kraft in sich tragen und dass Empörung blind machen kann für eine Realität, die differenziert betrachtet werden muss.

Auch wenn der Film aus Lucas' Perspektive erzählt ist, werden die Dorfbewohner keineswegs als lynchwütiger Mob dargestellt. Thomas Bo Larsen in der Rolle von Klaras Vater und Lucas' langjährigem Freund spielt die widersprüchlichen Emotionen seiner Figur derart kraftvoll aus, dass man auf der Leinwand sieht, wie die Seele des Mannes zu zerreißen droht.

Seine Intensität bezieht der Film aus seiner Konzentration auf die Figuren und der aus den Charakteren resultierenden Dynamik. Vinterberg findet hier zu seiner knappen, präzisen und kraftvollen Erzählweise zurück und entwirft einen provokanten wie notwendigen Film, der der Missbrauchsdebatte eine andere Perspektive abringt.

Martin Schwickert

Jagten. DK/S 2012 R: Thomas Vinterberg B: Thomas Vinterberg, Tobias Lindholm K: Charlotte Bruus Christensen D: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsson, Susse Wold