IN THE CUT


Gefahr und Lust

Jane Campion lässt Meg Ryan erwachsen werden

Der Weg zur Toilette führt die Kellertreppe hinunter. Im Halbdunkeln entdeckt Frannie (Meg Ryan) ein Paar. Sie bleibt stehen und beobachtet die Liebesszenerie mit Interesse. Den Kopf der Frau, der sich im Schoß des Mannes auf und ab bewegt. Den aufsteigenden Zigarettenrauch, der die Sicht behindert. Die Tätowierung an der Hand des Mannes. Die blau lackierten Fingernägel der Frau. Viel mehr ist nicht zu sehen. Als Frannie die Treppe wieder hinaufsteigt, ist ihr Leben verändert. Der voyeuristische Blick hat eine Blockade gelöst und das klar abgezirkelte Großstadt-Single-Leben der Literaturdozentin aus der Bahn geworfen.
Am nächsten Morgen steht ein Polizist vor der Tür. In ihrem Vorgarten sind Leichenteile einer Frau gefunden worden. Auf den Fotos erkennt Frannie die blauen Fingernägel. Und auf der Hand des Polizisten die Tätowierung. Aber da ist es schon zu spät. Zwischen Frannie und dem attraktiven Macho-Cop (Mark Ruffalo) regieren schon unsichtbare Anziehungskräfte, in denen sich Gefahr und Lust miteinander verbinden.
In the Cut ist ein überraschender Psycho-Thriller. Da ist zum einen Meg Ryan, die ihr Sweetheart-Image abwirft und endlich erwachsen wird. Da ist zum anderen Regisseurin Jane Campion, die mit Das Piano den Oscar gewonnen hat, aber nicht gerade im Thriller-Genre beheimatet ist. Und da ist New York, wie man es seit Taxi Driver nicht mehr gesehen hat. Ein unwirtlicher Ort, auf den Campion die Sicht immer nur in segmentierten Nahaufnahmen freigibt, die sie mit einer stilvollen Film-Noir-Lasur überzieht.
Campion umstellt die weibliche Hauptfigur mit verschiedenen potentiellen Tätern. Neben dem Polizisten sind das Frannies ehemaliger Lover (Kevin Bacon), der seit der Trennung nicht mehr in sein eigenes Leben zurückfindet, und ein afroamerikanischer Schüler, der sich mit Serienmördern beschäftigt. Bei Hitchcock wäre Frannie als wehrloses Opfer zwischen den Männern zerrieben und von einem weiteren gerettet worden. Aber Meg Ryans verletzlich-selbstbewusste Frauenfigur wird durch die Bedrohung zur handelnden Person, die aus dem Umgang mit der Gefahr ihre eigene (sexuelle) Befriedigung zieht.
Die Spannung entsteht nicht durch die Geschichte und deren unbefriedigende Auflösung, sondern durch das misstrauische Umeinanderschnurren der Figuren, die ihre Machtpositionen im Geschlechterkampf immer wieder neu definieren. Die subjektive Erzählweise und die visuelle Auflösung verleihen dem feministischen Thriller eine selten gewordene Fragilität und Anziehungskraft

Martin Schwickert
USA 03 R&B: Jane Campion K: Dion Beebe D: Meg Ryan, Mark Ruffalo, Jennifer Jason Leigh, Kevin Bacon