CITY OF GOD Kiffen, Koksen, Killen
Leben und Sterben in Rios verrufenster Gegend Cidade de Deus - Stadt Gottes" nennt sich eine Armensiedlung am Rande Rios. Ende der 60er standen hier die frisch getünchten Baracken fein säuberlich nebeneinander. Zwanzig Jahre später ist das Viertel zu einem unübersichtlichen urbanen Dschungel verwuchert, der von Armutskriminalität und organisiertem Drogenhandel regiert wird. Der brasilianische Filmemacher Fernando Meirelles zeichnet in City of God ein vibrierendes Porträt von Rios verrufendster Gegend und stürzt sich gleich zu Beginn mit der Handkamera mitten hinein ins lebendige Chaos der Favelas. Rhythmisch zu vorwärtstreibenden Salsaklängen wird ein Messer auf dem Stein geschärft. Für ein improvisiertes Straßenfest sollen ein paar Hühner geschlachtet werden. Eins macht sich aus dem Staub und wird von einem wilden Haufen Kinder verfolgt. Alle - bis auf das Huhn - sind bewaffnet. Das Tier flüchtet sich auf die Straße. Reifen quietschen. Autotüren schlagen auf. Eine Reihe Polizisten steht, Gewehr im Anschlag, einer Horde von schwerbewaffneten Jugendlichen gegenüber. In der Mitte zwischen den Fronten: Buscapé (Luis Otávio), auf den die Kamera zurast und dessen Erzählerstimme die Szene auf dem Höhepunkt zum Stillstand bringt. Von vorne müsse man anfangen, sagt er, um zu verstehen, was hier los ist. Wenige atemlose Minuten braucht Fernando Meirelles nur, um zu zeigen, wie gefährlich dicht in der Stadt Gottes Spaß und tödlicher Ernst, Alltag und Waffengewalt beieinander liegen. Wie es zu dieser unauflösbaren Verflechtung gekommen ist - davon erzählt City of God in epischer Breite, mit präzisem Realismus, entfesselter Kamera und pulsierendem Schnittrhythmus. Am Anfang ist alles nur ein großer Spaß. Wenn die Jungs von den "Wild Angels" Ende der 60er einen Gasflaschentransporter überfallen und die Beute an die Einwohner verteilen, dann ist das nur die Fortsetzung des Räuber- und Gendarmspiels aus Kindertagen. Nur so zum Spaß erschießt auch ein elfjähriger Junge, der eigentlich Schmiere stehen sollte, bei einem Überfall die Belegschaft eines Bordells. Sein Gesicht strahlt und es wird noch oft strahlen. Sieben Jahre später bringt "Locke" mit seiner Mordlust in wenigen Tagen den ganzen Drogenhandel des Viertels unter seine Kontrolle. In der Gegend, in der jeder jeden von Kindesbeinen an kennt, wird der Soziopath zum "Paten". Aber wenigstens für eine Weile bringt "Lockes" Autorität ein wenig Stabilität in die Stadt. Als sein Jugendfreund Bene jedoch aus dem Geschäft aussteigt und ermordet wird, gerät der Ghettoboss aus der Balance und zieht das ganze Viertel in einem blutigen Bandenkrieg hinein. City of God ist ein Film über die kurze Kindheit und das schnelle Sterben in den Favelas. "Ich kiffe. Ich kokse. Ich habe gestohlen und jemanden ermordet. Ich bin ein Mann!" behauptet ein kleiner Junge noch vor dem Stimmbruch. Aber obwohl Meirelles von blutigen sozialen Härten erzählt, strahlt sein Film eine enorme Lebensenergie aus. Vielleicht liegt das daran, dass sich das Team hautnah an das Leben in den Slums herangewagt hat. 200 Kinder und Jugendliche aus Rios Armenvierteln bekamen ein Jahr lang Schauspielunterricht und stellten später einen Großteil des Ensembles. Es ist müßig über die Authentizität im Kino zu philosophieren. Aber man sieht es einem Film an, wenn die Leute vor der Kamera hinter dem Projekt stehen. Mit seiner wilden Ästhetik findet City of God die adäquate Form für die Dringlichkeit seines Anliegens. Mit beiden Händen packt einen dieser Film und trifft durch die Augen mitten ins Herz.
Martin Schwickert
Cidade de Deus Bras. 2002 R: Fernando Meirelles B: Braulio Mantovani nach dem Roman von Paulo Lins K: Cesar Charlone D: Seu Jorge, Alexandre Rodrigues, Leandro Firmino da Hora
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