CHICAGO Retrochic
Hat man auch nicht oft: Ein zynisches Musical Kaum einem anderen Kinogenre wurde schon so oft der Totenschein ausgestellt wie dem Musical. Spätestens mit Anbruch des MTV-Zeitalters glaubte man das Genre an die Musikvideobranche verloren. Erst Baz Luhrmanns Moulin Rouge nahm das Musical als multimediale Unterhaltungskunst wieder ernst und setzte auf eine grell-bunte Reinkarnation. Dagegen wirkt Rob Marshalls Chicago auf den ersten Blick fast etwas konservativ. Wenn Catherine Zeta-Jones in der Eröffnungssequenz lasziv rauchend "All that Jazz" anstimmt, sind die stilistischen Maßstäbe gesetzt. Moulin Rouge war purer Pop. Chicago hingegen ist feinster Retrochic. Die Story ist im Jahr 1929 angesiedelt. Roxy (Renée Zellweger) träumt von einer Karriere als Showstar, landet allerdings, als sie ihren Liebhaber im Streit erschießt, nicht im Rampenlicht, sondern im Todeszellentrakt. Dort trifft sie auf ihr Idol, die Nachclubsängerin Velma (Catherine Zeta-Jones), die ebenfalls wegen eines Verbrechens aus Leidenschaft einsitzt. Velma ist die Promi-Gefangene im Knast. Ihr Gesicht ist jeden Tag in den Zeitungen, denn Staranwalt Billy Flynn hat die Verteidigung übernommen. Richard Gere spielt den geschäftstüchtigen Advokaten, der jede Jury um den Finger wickelt und den ruchlosesten Verbrecherinnen einen Freispruch verschafft. Wenn Flynn den Knast betritt, schnurren die weiblichen Gefangenen wie Katzen durch die Gitterstäbe hindurch. Die Figur verkörpert in Reinform das, wovon ganz Chicago durchwachsen ist: dem diskreten Charme des Zynismus. Chicago ist ein Musical ohne moralische Zentralmacht, ohne klare Unterteilung in Gut und Böse und vielleicht gerade deshalb trotz des konservativen Looks wie geschaffen für unser verlottertes neues Jahrtausend. Rob Marshalls Kinofassung des Broadwayerfolges von 1975 konzentriert sich thematisch auf die Wechselwirkung von Verbrechen und Publizität. Schnell wittert Roxy ihre Chance vom Gefängnis aus die eigene Karriere als Starlet in Gang zu setzen. Wie ein Puppenspieler dirigiert Flynn ihre Auftritte vor der sensationshungrigen Presse. Ganz Chicago ist im Roxy-Fieber. Die Frauen lassen sich das Haar blondieren und Männer ersteigern Roxys Wäschestücke zu Höchstpreisen. Renée Zellweger ist für die Rolle der naiv-gerissenen Blondine optimal besetzt, auch wenn sie in den Gesangs- und Tanzeinlagen manchmal etwas unsicher wirkt. Catherine Zeta-Jones hingegen kann als brünette Rivalin auf einschlägige Bühnenerfahrung zurückgreifen und sie ist es auch, die den Glamour der alten Zeit in diesen Film hineinbringt. Absolut überzeugend wirken die Kulissen. Bruchlos verwandelt sich der dunkle Zellentrakt in die glitzernden Welten, in die sich Roxy immer wieder hineinträumt. Die Songs von John Kander finden sofort ihren Platz im musikalischen Gedächtnis und sorgen dafür, dass man das Kino schwingenden Schrittes wieder verlässt.
Martin Schwickert
USA 2002 R: Rob Marshall. D: Catherine Zeta-Jones, Renee Zellweger, Richard Gere
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