DAS LEBEN IST EIN CHANSON


Parole

Alain Resnais ist immer noch originell

Der Veteran der Novelle Vague Alan Resnais gehört auch im fortgeschrittenen Alter noch zu den Regisseuren, die auf die Konventionen des Kinos pfeifen. Nicht, daß er stur-avantgardistisch gegen die alte Gewohnheiten anrennen würde - Resnais beachtet sie einfach nicht. Der neue Streich des 75jährigen Das Leben ist ein Chanson läßt sich kaum einordnen. Irgendwo zwischen Film, Sprechtheater und Musical angelegt, verfolgt Resnais die emotionalen Verwirrungszustände von einer Handvoll Hauptfiguren und versetzt diesen Reigen der Gefühle mit populärem Liedgut. Über 30 Chansons werden von den Schauspielern im Playback-Verfahren (inklusive Schellack-Knistern) zitiert. Von Edith Piaf, über Gilbert Bécaud, Alan Gainsbourg bis hin zu Johnny Halliday und France Gall werden quer durch die Jahrzehnte Strophen, Refrains oder nur ein paar Worte in die laufenden Dialoge eingeblendet.
Dabei geht es durchaus um ernste Themen: Liebe, Betrug, Eifersucht, Ehekrisen, Wohnungssuche und gewichtige Dissertationsvorhaben. Die Geschichtsstudentin Camille (Agnés Jaoui) zum Beispiel hat sich in den attraktiven Marc (Lambert Wilson) verliebt. Sie hielt die Tränen, die der Immobilienmakler öffentlich unter freiem Himmel vergossen hat, für ein Anzeichen von Sensibilität. Tatsächlich erweist sich Marc als ein ausgesprochner Mistkerl, der seine Kunden betrügt und seine Angestellten Simon (André Dussollier) tyrannisiert. Simon wäre lieber Radioautor als Maklergehilfe und ist im übrigen ein heimlicher Verehrer von Camille und in seinem armseeligen Duffle-Coat das Gegenteil seines stilvollen Chefs. Sein Herz schüttet Simon tagtäglich Nicolas (Jean-Pierre Bacri) aus, einem unentschlossenen Wohnungssuchenden. Der nicht zustande kommende Mietvertrag ist hier der Beginn einer langen tiefen Freundschaft. Nicolas war übrigens früher einmal mit Camilles Schwester Odile (Sabine Azéma) liiert, welche ihrerseits gerade von Mistkerl Marc eine Wohnung vermittelt bekommen hat. Das Beziehungskarussel dreht sich mit zunehmender Dynamik und bietet Anlaß zu schicken Depressionszuständen, Ohnmachtsanfällen und rauschenden Abgängen. Die Chanson-Fetzen passen sich nahtlos ins Geschehen ein. So beginnt der Schauspieler Pierre Arditi mitten im Ehekrach mit der Stimme von Alan Delon "Parole, Parole" zu schmettern. An anderer Stelle leiht Gilbert Becaud für wenige Sekunden dem liebeskranken Simon nur ein einziges gesungenes Wort: "Nathalie". In Frankreich war dieser Film ein Kassenschlager, und der vollständige Genuß stellt sich sicherlich erst mit profunden Chanson-Kenntnissen ein. Für jede Lebenssituation hat Resnais das passende populäre Chanson zur Hand. Die Karaoke-Einlagen geben den großen Gefühlen wieder ihre banale Dimension zurück, und gerade in dem komischen Effekt liegt die unaufdringliche Lebensweisheit dieses Films.

Martin Schwickert