»THE BUTCHER BOY« Früher Wahn
Neil Jordan ist vom Heldenhimmel wieder auf irischen Boden zurückgekehrt Ein versoffener Vater, eine manisch-depressive Mutter, ein vernachlässigter Sohn, dessen wachsende kriminelle Energie in einem brutalen Mord mündet - das ist der Stoff, aus dem im Kino staubige Sozialstudien oder schockierende Psychodramen gestrickt werden. The Butcher Boy ist keins von beidem. Regisseur Neil Jordan erzählt die Geschichte eines Schlächterjungen, der in der irischen Provinz der 60er Jahre aufwächst und sein Handwerk am Menschen ausprobiert. Dabei verlegt Jordan die Erzählperspektive ins Innere des jungen Protagonisten, folgt dessen eingeschränkter Wahrnehmung und phantasievollen Hirngespinsten. Im Microkosmos des 13jährigen Francis Brady (beeindruckend: Eamonn Owens) sind die Dinge schwer in Einklang zu bringen. Eines Tages steht in der Küche ein Stuhl auf dem Tisch. Daneben seine Mutter, die mit Tränen in den Augen sehnsüchtig zur Decke schaut. Ein anderes Mal steckt sie den Kopf in den Ofen und irgendwann holt man sie ab. In die Werkstatt - wie Francis den Nachbarinnen freudestrahlend erklärt - zur Reparatur. Sein Vater (Stephen Rea) ist der größte Säufer in der Stadt und schläft meistens im Sessel neben dem Fernseher. In den TV-Serien ist Al Capone der Größte und Richard Kimble auf der Flucht. Dazwischen wird vor den Kommunismus gewarnt und vor der Atombombe. Man zeigt, wie man sich mit einer Aktentasche über dem Kopf im Ernstfall schützen kann. Noch schlimmer als den Kommunismus findet Francie allerdings Mrs. Nugent (Fiona Shaw), die ihn beim Apfelklauen erwischt und seine Familie als "Schweine" beschimpft hat. In Francies Phantasie mutiert Mrs. Nugent zu einem Alien-Monster, das es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Mit seinem Freund Joe hat er oben am See Blutsbruderschaft geschlossen, und in größten Notsituationen erscheint Francie die leibhaftige Jungfrau Maria (Sinnead O'Connor) als wichtigste Beraterin in allen Lebensfragen. Francie baut sich aus den Versatzstücken der Realität und seinen Phantastereien eine eigene Welt auf, die eine selbständige Logik entwickelt. Je mehr Haltepunkte Francie in seinem realen Leben verliert, desto mehr spinnt er sich in seine Wahnvorstellungen ein. Und Francie verliert viel: seinen Vater, seine Mutter und schließlich auch sein Freund Joe. Mit einer subtilen Unausweichlichkeit läuft der Film auf den mörderischen Endpunkt hinaus. Nach seinem eindimensionalen Heldenepos Michael Collins hat Neil Jordan mit The Butcher Boy den Erfolgsroman von Patrick McGabe auf kongeniale Weise verfilmt. Die irischen Provinzidylle der 60er Jahre, in die das Weltgeschehen nur durch das Fernsehen eindringt, wird mit einem durchdringenden Grauschleier überzogen. In dem gesellschaftlichen Klima aus bigotten Katholizismus und naiver Weltfremdheit gedeiht der Wahnsinn so prächtig und bunt wie im Treibhaus. The Butcher Boy verzichtet auf jede moralische Stellungnahme und versieht die Geschichte mit einem humorvollen, sarkastischen Off-Kommentar. Der erwachsene Francie berichtet aus der Nervenheilanstalt über seine Kindheit und distanziert sich dabei nur unvollständig von seinen Missetaten. Diese Erzählhaltung bewahrt den Film vor sozialarbeiterischer Betulichkeit und beschreibt stattdessen den Wahn als in sich stimmiges System der Wirklichkeitsverarbeitung.
Martin Schwickert
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