NO WAY HOME - UNTER BRÜDERN


No Fun

Ein mörderisches Kammerspiel

Schon als Kind war Joey nach dem Unfall damals "ein bißchen langsam". Einer, der ein bißchen langsam ist, hat es doppelt schwer im Knast. Als Joey nach sechs Jahren aus dem Sing-Sing-Gefängnis entlassen wird, ist sein Rücken flächendeckend mit Narben überzogen. Mit hängenden Schultern, als hätte er Blei in den Händen, schlurft er dem Ausgang entgegen. Wie Tim Roth in den ersten Filmminuten eine kaputte Lebensgeschichte in Haltung und Bewegung gießt, noch bevor man etwas über die Hintergründe der Figur erfährt - das ist schon eine bravouröse Leistung.
Joey kehrt zurück nach Staten Island, ein einst blühender New Yorker Vorort, in dem die Rezession der 90er deutliche Spuren hinterlassen hat. Im Candy-Store gibt es zwar immer noch rote Lakritz, aber zu Hause ist kaum noch etwas, wie es war. Der Schlüssel paßt nicht mehr in die Haustür, eine ihm unbekannte Frau öffnet und beäugt ihn mißtrauisch. Nach dem Tod der Mutter ist sein älterer Bruder Tommy (James Russo) mit seiner neuen Frau Lorrain (Deborah Unger) in den elterlichen Bungalow eingezogen. Lorrain ist zunächst abweisend gegenüber dem kahlrasierten Ex-Sträfling, während Tommy ihn mit gespielter, übertriebender Freude aufnimmt. Schon in dieser ersten Begrüßungszene spürt man, daß die beiden ungleichen Brüder durch eine unangenehme Erinnerung miteinander verbunden sind. Ein paar Mal zu oft sagt Tommy zu Lorrain: "Das verstehst Du nicht, er ist mein Bruder".
Tommy hält sich mit kleinen Drogendeals über Wasser und wird von seinen Schulden erdrückt. Die lokalen Kredithaie werden immer aufdringlicher und ungemütlicher. Joey weiß nur, daß er nie wieder dorthin zurück will, wo er gerade herkommt. Er ist auf Bewährung draußen, aber die Deals seines Bruders drohen ihn wieder mit herunterzuziehen. Lorrain steht zwischen den beiden und muß sich immer deutlicher fragen, wen sie denn da eigentlich geheiratet hat, während der beharrlich langsame Joey ihre Sympathien gewinnt.
Unter Brüdern ist ein modernes familiäres Kammerspiel: wenig Außenaufnahmen, die meisten Szenen spielen in der Küche. Gedreht wurde an Original-Schauplätzen in Staten-Island, wo auch der Regisseur Buddy Giovinazzo herkommt. Unglaublich konzentriert und mit genauem Blick für die soziale Realität erzählt er seine Kain-und-Abel-Geschichte, die mit einer gewissen Unaufhaltsamkeit zu einem blutigen Finale hinführt. Er kann sich dabei auf drei Darsteller in Hochform stützen, die mit zurückhaltender schauspielerischer Präzision in dieser engen Konfliktkonstellation agieren. Unter Brüdern ist kein wilder Film, und alle Vergleiche mit Quentin Tarrantino, die der Verleih im Presseheft anstellt, sind ausgemachter Blödsinn, auch wenn das Blutbad am Ende des Films durchaus zeitgenössische Ausmaße annimmt. Aber eben nicht überall, wo Blut spritzt, ist die Fun-Generation am Werk.

Martin Schwickert