Blue Jasmine In alter Größe Woody Allen hat wieder eine faszinierende Frauenfigur geschaffen Wo genau bin ich?" fragt Jasmine (Cate Blanchett) einen vorbeigehenden Passanten. Die Frage ist im Falle der New Yorkerin, die in San Fransisco gestrandet ist, vor allem existenzieller Natur. Vollkommen verloren ist sie in dieser ärmlichen, aber keineswegs verwahrlosten Gegend, genauso wie in ihrem eigenen Leben, das von einem Tag auf den anderen in sich zusammen gefallen ist. Vor nicht allzu langer Zeit gehörte Jasmine noch zur New Yorker High Society. Ein Apartment an der Park Avenue so groß wie ein Fußballplatz, ein schickes Strandhaus für die Sommermonate, ein Chauffeur, der sie von einer Benefiz-Veranstaltung zur nächsten fuhr, und ein Ehemann, der als Investmentberater ein Vermögen verdiente, gehörten zu diesem Leben, das ihr weggepfändet wurde, als herauskam, dass Göttergatte Hal (Alec Baldwin) für den eigenen Wohlstand in fremde Kassen gegriffen hatte. Nun steht Jasmine im Chaneljäckchen umgeben von ihren "Louis Vuitton"-Kofferset, auf dem ihre Initialen eingraviert sind, vor der Wohnung ihrer Schwester Ginger (Sally Hawkins) und hofft, auf der anderen Seite des Kontinents wieder auf die Beine zu kommen. Die beiden Adoptivgeschwister trennen Welten. Ginger arbeitet in einem Supermarkt. Ihre Wohnung, in der sie mit ihren beiden Söhnen lebt, ist klein und eng. Die Ehe mit Augie (Andrew Dice Clay) ging in die Brüche, nachdem Hal den kleinen Lotteriegewinn des Schwagers verspekuliert hatte, und ihr neuer Freund Chili (Bobby Cannavale) ist wenig begeistert, dass die zickige Schwester in Gingers Wohnung einzieht. Mit Blue Jasmine wandert Woody Allen in seinem 44. Film auf vertrautem Terrain. Schon immer hatte Allen ein gutes Händchen für die differenzierte Ausgestaltung neurotischer Frauencharaktere, und nicht selten wurden die Figurenentwürfe mit einem Oscar für die jeweiligen Darstellerinnen vergoldet: Diane Keaton für Der Stadtneurotiker, Mira Sorvino für Geliebte Aphrodite und Penélope Cruz für Vicky Christina Barcelona). In Blue Jasmine ist es die ohnehin hervorragende Cate Blanchett, die in der Rolle einer Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs noch einmal über sich hinauswächst. Einerseits ist diese gefallene Park-Avenue-Diva ein Monster, das ohne nachweisbare soziale Kompetenzen seine Mitmenschen durch pure Ignoranz auszusaugen scheint. Andererseits erarbeitet sich das neurotische Wesen zunehmend das Mitgefühl des Publikums. Mit unnachgiebiger Genauigkeit zeigt Blue Jasmine eine Frau im freien Fall durch die sozialen Hierarchien und befindet sich damit an einem Brennpunkt der amerikanischen Krisengesellschaft. Aber natürlich wird Allen auch hier nicht zum Klassenkämpfer, sondern bleibt seiner präzisen psychologischen Betrachtungsweise treu. Dennoch wird hier das Aufeinanderprallen der verschiedenen sozialen Milieus mit feiner Ironie zelebriert, wobei auch die proletarischen Klischees lustvoll unterwandert werden, wenn sich harte Working-Class-Kerle auch schon mal als echte Heulsusen erweisen dürfen. Wer Matchpoint gesehen hat, weiß, dass man sich in den Filmen Woody Allens nie wirklich in Sicherheit wiegen darf, und so findet auch Blue Jasmine eine höchst originelle Schlusswendung, in der Regisseur und Hauptdarstellerin wahre Größe beweisen. Martin Schwickert USA 2013 96 min R: Woody Allen K: Javier Aguirresarobe D: Cate Blanchett, Sally Hawkins, Alec Baldwin
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