BEIJING BICYCLE

Fahrraddiebe

Harter Alltag im Sozialismus

Zwischen Stadt und Land liegen in China Welten. Immer mehr junge Menschen drängen seit der marktwirtschaftlichen Öffnung aus den Dörfern in die prosperierenden Metropolen. Der 16jährige Guei (Cui Lin) ist einer von ihnen - ein schweigsamer Bursche mit naiven Träumen und bäuerlichem Beharrungsvermögen. Sei nicht so stur! sagen die Leute immer wieder zu ihm. Dabei ist Sturheit überlebensnotwendig, wenn man in der Fremde nicht unter die Räder kommen will. Guei ist Fahrradkurier in Peking. Sein silbern glänzendes Mountainbike ist für den Jungen wie ein Versprechen auf ein besseres Leben. Ein paar Tage noch, dann ist es abbezahlt, dann gehört es ihm ganz allein.
Dem jugendlichen Existenzgründer stellt Wang Xiaoshuais Beijing Bicycle den Stadtjungen Jian (Li Bin) entgegen. Seine Schulfreunde aus den reicheren Familien sausen mit schmucken Bikes durch die Gegend. Um ihnen und der hübschen Xiao (Gao Yuanyuan) zu imponieren, klaut Jian die Familienersparnisse und kauft auf dem Flohmarkt jenes silberne Rad, das Guei vor wenigen Tagen gestohlen wurde. Zwischen den beiden Jungen entsteht ein äußerst hartnäckiger Kampf um die Besitzverhältnisse. Für Guei ist das Rad von existenzieller, ökonomischer Bedeutung. Für Jian hingegen ist es ein Statussymbol, das ihm lang ersehnten Respekt der Gleichaltrigen verschafft. Mit unnachgiebiger Sturheit verteidigt Guei den geliebten Drahtesel. Als Jians Freunde ihn verprügeln, klammert er sich über mehrere Stunden schreiend an seinen einzigen Besitz. Das imponiert sogar den abgeklärten Großstadtkids. Ein Kompromiss wird ausgehandelt, auch wenn der Triumph der Diplomatie nur von kurzer Dauer bleibt.
In unübersehbarer Anlehnung an Vittorio de Sicas neorealistischen Klassiker Fahrraddiebe erzählt Regisseur Wang Xiaoshuai seine Parabel über die ökonomischen Verteilungskämpfe im modernen China. Wang gehört zur jungen, sogenannten fünften Generation chinesischer Filmemacher, die ihr Anliegen nicht mehr hinter opulenten Historiendramen verstecken, sondern den sozialen Härten in Peking oder Shanghai direkt ins Gesicht schauen. Mit ruhiger Hand filtert die Kamera aus dem hektischen Großstadttreiben die Poesie des Alltäglichen heraus, blickt geduldig in die Gesichter der Jungen, bis man ihren eigentlichen Charakter hinter den stoischen Fassaden erkennt. Kurz und abrupt flammt die Jugendgewalt auf. Denn sie gehört zum Alltag der neuen Zeit, die Wang so eindringlich und angenehm ungeschwätzig porträtiert. Dass sozialer Realismus und die poetischen Traditionen des chinesischen Kinos sich nicht widersprechen - Beijing Bicycle , im letzten Jahr in Berlin mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet, beweist es in jeder Einstellung.

Martin Schwickert

China 2001 R: Wang Xiaoshuai K: Liu Jie D: Cui Lin, Li Bin, Zhou Xun