Anna Karenina Alles ist Bühne Eine originelle Kinoversion Das Leben in der russischen Adelsgesellschaft des 19. Jahrhunderts ist eine Bühne. Alles ist Theater. Alles ist öffentlich. Alles wird von allen gesehen, kommentiert und beurteilt. Warum nicht gleich die wichtigste Liebesgeschichte dieser Ära in ein Theater verfrachten, wo man die Emotionen direkt ins Scheinwerferlicht rücken und die Kulissen frei von historischen Realismusansprüchen gestalten und verschieben kann? Die Rede ist von Anna Karenina, einem der wirklich großen Liebesromane der Weltliteratur. Mehr als zwanzig Mal wurde Tolstois Roman schon für Kino und Fernsehen adaptiert. Greta Garbo, Vivian Leigh, Jaqueline Bisset und Sophie Marceau waren in der Titelrolle zu sehen. Wer den Stoff noch einmal verfilmen will, sollte sich etwas grundlegend Neues einfallen lassen. Genau das ist Joe Wright gelungen. Der britische Regisseur hatte schon mit der Adaption von Jane Austens Stolz und Vorurteil (2005) und der Verfilmung von Ian McEwans Abbitte (2007) einen frischen Zugang zur Weltliteratur gefunden und mit Wer ist Hanna? (2011) das Actionkino kraftvoll gegen den Strich gebürstet. Auch wenn Wright nun in seiner Kinoversion die Ballsäle und Straßen von St.Petersburg und Moskau ins Theater verfrachtet, ist sein Anna Karenina alles andere als ein abgefilmtes Bühnenstück. Die entfesselte Kamera fährt vollkommen frei durch den Raum, der selbst wiederum permanent in Bewegung bleibt. Mal geht es eine Leiter hoch auf den Bühnenboden, der sich in eine verwinkelte Gassenlandschaft verwandelt, mal verschieben die Arbeiter ein paar Möbel und Wände und machen so das Wohnzimmer zu einem riesigen Büro. Und gerade wenn man sich ans Umfeld gewöhnt hat, wird eine Tür geöffnet und der Film tritt hinaus in eine weite, russische Winterlandschaft. Alles bleibt in Bewegung. In Wrights "Anna Karenina" gibt es keine verlässlichen Koordinaten und natürlich spiegelt das nur die enormen emotionalen Umwälzungsprozesse, in die die gar nicht mal so unglücklich verheiratete Anna Karenina (Keira Knightley) gerät, als sie sich hoffnungslos in den jungen, schmucken Offizier Vronsky (Aaron Taylor-Johnson) verliebt. In der legendären Ballszene erstarrt die Gesellschaft in der Bewegung, als Anna und Vronsky zu tanzen beginnen: Die Welt steht still für die beiden Liebenden, die nur Augen füreinander haben und unter strenger Beobachtung stehen. Sogar das Pferderennen, in dem die verbotene Affäre nach dem Unfall Vronskys und Annas bestürzter Reaktion endgültig zur öffentlichen Angelegenheit wird, verlegt Wright auf die Bühne. Aber gerade das gibt dem Regisseur vollkommene gestalterische Unabhängigkeit und befreit die Inszenierung von allem Historienballast. Licht, Farben, Kulissen und Kostüme unterliegen keinen zeitgeschichtlichen Naturalismusgelübden, sondern dienen einzig und allein der Geschichte, den Figuren und ihren Emotionen. Der hochdynamischen Inszenierung liegt etwas Rauschhaftes zugrunde, was dem Wesen der dramatischen Geschichte entspricht, in der auf das Hochgefühl der verbotenen Liebe der freie Fall und die Ausgrenzung aus der Gesellschaft folgen. Die hervorragend aufspielende Keira Knightley legt ihre Anna als junge, unerfahrene Frau an, die durch Liebe und Begehren an Selbstbewusstsein gewinnt - und später an den Widerständen des Establishments umso eindringlicher zerbricht. Auch der Rest des vorwiegend britischen Ensembles kann überzeugen. Aaron Taylor-Johnson spielt die allmähliche Wandlung Vronskys vom Dandy zum tragischen, romantischen Helden angenehm unaufdringlich, und Jude Law wurde in der Rolle des kühlen Moralisten Karenin erfolgreich gegen sein Image als Womanizer besetzt. Hervorragend auch Matthew Macfadyen, der dem Familienvater und Lebemann Oblonsky eine warmherzig-clowneske Aura verleiht. Martin Schwickert Anna Karenina GB/F 2012 R: Joe Wright B: Tom Stoppard K: Seamus McGarvey D: Keira Knightley, Jude Law, Aaron Taylor-Johnson
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