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Bildungsfragen

Erwin Wagenhofer stellt PISA auf den Kopf

Wir sind alle blöd. Darin sind wir uns einig. Wir lernen zu wenig und vergessen das meiste. Und wir sind nicht in der Lage, uns zu diesem Problem eine andere Lösung einfallen zu lassen, als Schule noch "leistungsorientierter" zu machen. Dass das nicht der Weisheit letzter Schluss ist, legt der Dokumentarfilmer Erwin Wagenhofer schon in den ersten Bildern seines neuen Films nahe. Ein chinesischer Bildungspolitiker betrachtet skeptisch den zunehmenden Drill in seinen Schulen und geißelt den Konkurrenzdruck, der die Kreativität töte.

Der Brite Sir Ken Robinson liefert später die Zahlen zur Skepsis. Er forschte zur Fähigkeit des "divergenten Denkens", zum unangepassten Problemlösen. Mit dem Ergebnis, dass Kinder bis zu 5 Jahren eigentlich alle darüber verfügen, sie aber ab der Einschulung ständig verlieren. Nur noch 2 % der Erwachsenen sind in dem Sinne hochbegabt. Was für ein Verlust!

Als Kontrast besuchte Wagenhofer auch Management-Seminare der Unternehmensberaterfirma McKinsey, wo angepasste Yuppies auf durchaus alberne Weise Leistungsorientierung heraushängen lassen. Hier spart sich der Film jeden Kommentar, der sonst fast über jedem Bild liegt. Unser Bildungssystem stammt aus der Zeit der Kabinettskriege und der Industrialisierung, sollte verwendbares Menschenmaterial für die Zwecke von Staat und Wirtschaft produzieren. Kreativität war unnütz, divergentes Denken gar gefährlich. Heute aber führt gerade diese Eindimensionalität in die Sackgasse. Als säße ein preussischer Kavallerist plötzlich vor Facebook.

Ausserdem ist sie unmenschlich, wie Wagenhofer in einer weiteren Themenebene vorführt. Er und seine Zeugen beschwören die vielfältigen Möglichkeiten des Neugeborenen und bestehen darauf, dass Bildung das Gegenteil von Unterricht ist, angeborene Neugier und Spieltrieb aber der einzige Weg zu einer blühenden Zukunft. Und viel Arbeit natürlich, wie der Film auch nicht verschweigt, wenn er etwa zwei Menschen vorstellt, die es gegen das normale Bildungssystem zu geglückten Erwachsenen gebracht haben. Einer hat nie eine Schule besucht, ist heute mehrsprachig, Gitarrenbauer und Vortragsreisender in Sachen "Lernen ohne Schule", der andere ist der erste Universitätsabsolvent Europas, trotz seines Down-Syndroms, das ihn nach den Regularien unbeschulbar machte.

Das alles ist zwar plakativ und parteiisch gemacht, regt aber sehr zum Nachdenken an. Vielleicht auch über die erstaunliche PISA-Nachfolgestudie, nach der die Eltern in Deutschland deutlich blöder als ihre mittelmäßigen Kinder sind.

Wing

A 2013. R&B: Erwin Wagenhofer