35 RUM

Schienen und Lichter

Claire Denis erzählt vom Älterwerden und anders werden

Minutenlang rattert der Vorortzug durch das triste Umfeld von Paris. Es wird langsam dunkel, und der gespurte Weg scheint nirgendwo hin zu führen. Das geht so lange wortlos weiter, bis jeder merkt: Das Bild ist das Thema, es nicht auszusprechen die Methode.

Seit vielen Jahren arbeitet Lionel als Lokführer bei der S-Bahn und zog seine Tochter Josephine alleine auf. Man liebt sich sehr und organisiert den grauen Alltag ohne darüber reden zu müssen. Aber gerade im Einklang zeigen sich die ersten Ruckler. Da kauft der Vater der Tochter einen Reiskocher, den sie gleich dankend in der Küche einsetzt. Dass sie selbst auch schon einen gekauft hatte, haben wir vorher gesehen; der bleibt den Rest des Films über als originalverpackter Zusammenhangsbeweis im Schrank.

So zurückhaltend streift Claire Denis durch das kleine Leben des prekären Paares. Mal möchte eine ältere Nachbarin eine Art Familienleben aus früheren Tagen wieder aufnehmen, mal leidet ein S-Bahn-Kollege an seiner Pensionierung, mal kann sich ein jüngerer Nachbar nicht von den ererbten Möbeln seiner Eltern trennen und sein Krösken mit Josephine aus Respekt vor Lionel nicht vorantreiben.

Und immer wieder lösen abrupte Stillstände kleine Fluchten aus. Ein Auto bleibt auf dem Weg zu einem Konzert plötzlich stehen, eine Katze stirbt an Altersschwäche, ein Körper liegt auf den S-Bahn-Schienen. Aber die melodramatischen Ansätze werden sämtlich leise unterspielt. Niemand weint, keiner wütet, alle weichen klärenden Gesprächen aus.

Den meisten Text haben Passagen an der Uni, wo Josephine im Seminar über Kolonialismus und die Schuldenkrise diskutiert und der Zuschauer erstmals überdeutlich merkt, dass fast alle Personen in diesem Film dunkelhäutig sind. Und dass Rassismus hier kein Thema ist. "Bildet euch eine eigene Meinung" sagt der schwarze Dozent, und sofort lässt uns die Kamerafrau Agnès Godard wieder mit ihren meist dämmerigen Bildern mit wenigen Lichtpunkten allein.

Erst am Ende, in Deutschland, wird es unangenehm hell. Es sieht aus wie ein Kompromiss mit der koproduzierenden norddeutschen Filmförderung, wenn Ingrid Caven mehr dem Publikum als dem nach Lübeck angereisten Vater-Tochter-Paar seine Vorgeschichte und Josephines hellere Haut erklärt. Dann wandern Kinder mit Martinslaternen in die Nacht. Offensichtlich nicht auf Schienen.

Aber eindeutig traditionell. Wie überhaupt ein seltsamer Brauchtums-Fetischismus unter der modernen Geschichte liegt. "Wir danken Gott für die Gaben der Natur" singt ein afrikanischer Sänger vom CD-Player in der Vorstadtwohnung, der pensionierte Kollege kriegt einen I-Pod und ein Stammes-Emblem geschenkt, eine Tochter muss heiraten, ein Blumenstrauss muss etwas bedeuten, ein Brauthandschuh ersetzt eine ganze Nebenhandlung.

Der rätselhafte Titel kommt von einem Trinkspiel, das im Film nicht erklärt wird, aber zu bedeuten scheint: Wenn etwas wirklich Wichtiges passiert, das ist schon eine Flasche Rum wert.

Wing

35 Rhums. F / D 2008. R: Claire Denis B: Claire Denis, Jean-Pol Fargeau K: Agnès Godard D: Alex Descas, Mati Diop, Grégoire Colin, Ingrid Caven. franz. O. mit deutschen Untertiteln, teilweise deutsch