BERLINALE 2001
DIE SCHLACHTBANK DES DEUTSCHEN KINOS
Auf den 51. Filmfestspielen in Berlin jammerten deutsche Produzenten über ihre Nichtbeachtung. Immerhin dafür wurden sie beachtet. Ein bißchenMit dem Berlinale-Chef Moritz de Hadeln war es ein wenig wie mit Helmut Kohl. Ein Sesselverteidiger, ein Amtszeitüberzieher, ein Zuspätgeher, dem niemand so recht hinterhertrauern will. Als die Mauer in Berlin noch stand, da hat de Hadeln mit diplomatischem Geschick für den cineastischen Austausch mit dem nichtkapitalistischen Ausland gesorgt. Nach 1989 wurde die Stadt auf den Kopf gestellt, nur die Berlinale blieb irgendwie die Alte. Der quälende Spagat zwischen Kunst und Kommerz endete immer wieder im Mittelmaß, die Flucht ins Überangebot brachte mehr buntes Treiben und weniger Qualität. Etwa 600 Filme in zehn Tagen standen in diesem Jahr auf dem Programm, da fällt es schwer den Überblick zu bewahren. Zum Glück gibt es Georgia Tornow. Die war mal Redakteurin bei der TAZ und ist jetzt zwar keine Außenministerin, aber immerhin Generalsekretärin von Film 20 - einer Interessengemeinschaft der deutschen Film- und Fernsehproduzenten. Georgia Tornow bemängelte in der Welt nun das Fehlen von genuin deutschen Filmen im Berlinale-Wettbewerb. Ein Skandal sei das, sagte sie und sorgte damit für einen Skandal.
Abgesehen von der Tatsache, dass das Problem des deutschen Films ja gerade in seine provinziellen Genuinität liegt, stellte sich die Frage, was einen genuin deutscher Film denn nun ausmacht. Annauds Stalingrad-Epos Duell - Enemy At The Gates gehört wohl nicht in die Kategorie. Deutsch genug war Tornow auch nicht der Wettbewerbsfilm My Sweet Home des Berliner Filmemachers Filippos Tsitos. Der deutschgriechische Regisseur führt in einer schmuddeligen Eckkneipe die Lebensgeschichten von russischen, amerikanischen, griechischen, arabischen und deutschen Berlinern zusammen und erzählt ganz ungenuin vom bedrückenden und befreienden Gefühl der inneren Heimatlosigkeit. My Sweet Home ist ein holprig-sympathischer Debütfilm, wie sie alle Jahre wieder im Wettbewerb auftauchen.
Nur selten können einheimische Filme im internationalen Vergleich bestehen, unter Filmemachern gilt die Berlinale als Schlachtbank für das deutsche Kino. Bleiben wir beim Genuinen. Die Kulturnation Frankreich ist bekanntlich auch um die Genuinität ihres Filmschaffens besorgt. Regisseur Patrice Chéreau zeigt seinen Landsleuten die lange Nase und verlagert seinen Film Intimacy nach London und dreht dazu noch mit britschen Schauspielern. Hier geht es vor allem um die Sprache der Körper. Chéreau erzählt von zwei Vierzigern, die sich jeden Mittwoch Nachmittag fast wortlos zum Beischlaf treffen, bis Er Ihr nachzuspionieren beginnt und das Zweckbündnis ins Wanken gerät. Französische Freizügigkeit und grobkörniger britischer Realismus verbinden sich ganz ungezwungen. Wegen seiner expliziten Sexszenen bekam Intimacy schnell das Prädikat umstritten, und deshalb wurde die Entscheidung der Jury, das Werk mit dem Goldenen Bären auszuzeichnen, folgerichtig als mutig eingeordnet.
Traffic von Steven Soderbergh war nicht umstritten und trotzdem mutig. Das aus drei Erzählsträngen zusammengepuzzelte Sittengemälde des internationalen Drogenhandels bringt vom User über den Dealer bis hin zum mexikanischen Drogenbaron und den Feldherren des US-amerikanischen War on Drugs die ganze globale und persönliche Komplexität des Themas auf die Leinwand. Traffic ist ein kompetentes politisches Statement und wird mit seiner mehrdimensionalen Erzählweise neue Maßstäbe setzen. Eine Episode spielt in Mexico, alle Beteiligten sprechen logischerweise Spanisch. Den Hollywood-Studios war das wohl nicht genuin amerikanisch genug, Soderbergh musste seinen Film ohne sie produzieren.
Zuviele Filme verderben zwar nicht den Charakter, aber ein Mega-Festival wie die Berlinale verzerrt schon einmal den Blick auf das echte Leben. Manchmal steht die Wirklichkeit ganz plötzlich vor einem. Beim China-Imbiss z.B. in der benachbarten Shopping-Mall, während man sein Menue Nummer 13 in sich hineinschlingt. Ein junges Schlabberhosen-Paar unterhält sich nebenan über den Winterschlussverkauf bei H&M und die Vor- und Nachteile des Nachwürzens mit Sambal-Olek. Etwas unvermittelt fragt die Frau, die ungefähr so alt ist wie Moritz de Hadelns Amtszeit lang war: Sag mal, gab es diese Berlinale eigentlich auch schon letztes Jahr? Ihr Freund zuckt mit den Schultern, und am Nebentisch verschluckt sich der Typ mit den seltsam geröteten Augen an seinen nachgewürzten Bambussprossen ...
Martin Schwickert
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