HOCHBURG DER SÜNDEN

Medea mit Kopftuch

Türkische Frauen spielen Euripides

Zufällig hat jemand gespeichert, was Aysel, Schwäbin, Türkin, Mutter, auf dem Anrufbeantworter des Stuttgarter Theaters hinterließ: Sie würde wohl mitspielen wollen, auch wenn sie noch nicht wisse, was ihr Mann dazu sagt. Später erfahren wir, dass öffentliches Reden für Frauen in Aysels Kultur den Ruch der Sünde hat, in einem Stück mitzuspielen, in dem Sex auf der Bühne angedeutet wird, ganz untragbar ist. Trotzdem bleibt sie dabei, als einzige Kopftuchträgerin unter siebzehn modernen Muslima, die der Theaterregisseur Volker Lösch als Rache-Chor mit Real-Life-Passagen für seine Medea-Inszenierung einsetzen will.
Alle berichten von ihren Erniedrigungen, von männlichen Übergriffen, von den Schmerzen der Befreiung. Aysel aber stört auf interessante Weise, weil sie sich gar nicht ausgebeutet fühlt, weil sie Männer im Grunde schon für die besseren Menschen hält, und weil sie zugleich lustig und engstirnig, freundlich und sittenstreng sein kann.
Die Dokumentation vom Thomas Lauterbach lässt das Stück fast ganz weg und konzentriert sich auf die Gespräche der Türkinnen. "Bei uns muss man nach der Hochzeitsnacht ein blutiges Bettlaken vorweisen", berichtet eine offensichtlich emanzipierte Türkin und schüttelt sich lachend über die Hinterwäldler zu Hause. "Gar nicht wahr" braust Aysel auf, "Ich habe so etwas noch nie gesehen. Sonst jemand?" Keiner hat, aber die Frauen einigen sich darauf, dass der Boom an Jungfernhäutchen-Reparaturen in türkischen Kliniken ein schlechtes Zeichen ist.
Später finden sie auch heraus, dass es wohl ein bisschen patriarchalisch ist, einen bunten Haufen echter Türkinnen zu einer Art kollektiver Vorzeige-Unterdrückten auf der Bühne zusammenzubasteln. Und eine unterwegs zu verlieren, die das theatralische Erinnern an ihr eigenes Drama ohne therapeutische Unterstützung nicht aushielt.

-w-

D 2008, R + B: Thomas Lauterbach K: Gunther Merz D: Aysel Kilic, Annabella Akcal, Volker Lösch u.v.a.