HAFTBEFEHL

Justizskandal

Wie ein Prozess ein Leben zerstört

Früh morgens kommt die Polizei ins Haus von Alain Marécaux, greift sich die Kinder, durchsucht alle Schränke und schleppt den bis dato untadeligen Gerichtsvollzieher aufs Revier. Man geht ruppig mit ihm um, und noch ein bisschen ärger, als man ihn zur Tat vernimmt: Haben Sie je Kinder vergewaltigt, Ihren Sohn missbraucht, hat Ihre Frau mitgemacht, wer sonst noch, sind Sie schwul? Alain Marécaux versteht die Welt nicht mehr. Noch weniger, dass sein Sohn angeblich etwas über einen Übergriff gesagt haben soll. Für kurze Zeit scheint immerhin möglich, dass der strikt seiner Hauptperson folgende Film uns in eine Perspektivenfalle locken will. Ist der gnadenlose Untersuchungsrichter vielleicht auf der richtigen Spur, wenn er anonyme Anschuldigungen verfolgt und Unschuldsbeteuerungen ignoriert? Aber schnell wird klar, dass hier nur einer in ein katastrophales System geraten ist, das einen Verdächtigten einsperrt, die wahren Täter aber bis zum Prozess auf freiem Fuß lässt. Offenbar haben zwei zerrüttete Familien sich an ihren Kindern vergangen und bei ihrer Vernehmung einen ganzen Päderasten-Ring um sich herum imaginiert, die Kinder haben sich mit Gräuelmärchen gegenseitig angesteckt und jeder Ermittler ließ entlastende Indizien weg, weil der Fall immer widerlicher wurde. Dass er noch dazu wirklich geschehen ist, rettet den Film über die finale Zuspitzung: Alain Marécaux will sich mehrfach umbringen und wird bei einem skandalösen Mammutprozess tatsächlich verurteilt. Wenn auch nur wegen Missbrauch des eigenen Sohnes. Andere Unschuldige kriegen höhere Strafen, weil die Justiz ihr Totalversagen einfach nicht zugeben konnte. Erst der Nachspann setzt den Gerichtsvollzieher wieder in alle Ehren ein. Alain Marécaux glaubt immer noch an den Rechtsstaat und will ihm dienen. Warum, versteht kein Mensch. Der echte Prozess war 2004 ein Skandal. Unschuldige saßen zum Teil jahrelang in Haft, einer brachte sich tatsächlich um.

-w-

F 2011. R + B: Vincent Garenq K: Renaud Chassaing D: Philippe Torreton, Noémie Lvovsky. E: Making Of. 98 Min.