DIE KLEINE KRIMI-RUNDSCHAU (24. Lieferung)

Stirb langsam!


und hier die vorherige-Ausgabe

In dem in Italien 2003 erschienenen Montalbano-Band Das kalte Lächeln des Meeres lästert der alt-linke Autor Andrea Camilleri erstmal mächtig über Berlusconi und das neue Italien ab. Und sein Kommissar schämt sich so sehr für das Vorgehen der Polizei beim Weltgipfel in Genua, dass er am liebsten den Dienst quittieren möchte. Aber dann gerät er beim Schwimmen im Meer an eine Leiche und ist bei der Ankunft eines Schiffes mit illegalen Einwanderern dabei. Und trotz Erkältung, Selbstzweifeln und einer nörgelnden Freundin nimmt Montalbano den Kampf auf. Das ist, wie immer bei Camilleri, guter, hier allerdings recht routiniert und übersichtlich organisierter Stoff. Aber wenigstens nutzt er den Roman für ein paar saftige politische Statements. Und für die Erkenntnis, dass Weglaufen keine Lösung ist.

Am Anfang verschwindet ein Kind und die ganz normale Routine bei der Vermisstenabteilung der Münchner Polizei setzt ein. Nur ein wenig verstört durch eine Dienstaufsichts-Beschwerde: Kommissar Tabor Süden, Friedrich Anis langsamer, umständlicher Serien-Held, hat einen Kollegen schwer verprügelt. Ganz allmählich nur kommt Süden und das verkehrte Kind zum Kern des Dramas, einer ganz normal zerrütteten Familie. Es fliesst kaum Blut, fast kein Klischee kommt vor, das in Sozialkrimis so naheliegende Gutmenschentum unterbleibt - es gibt nicht mal einen Mord, Todsünde für Krimi-Beckmesser. Aber das schmale Bändchen geht trotzdem todtraurig und bewegend aus.
Roger Graf ist ein Schweizer und ein Unikum. Eigentlich ist er ein ernsthafter Schriftsteller mit richtigen Krimis und richtigen Literaturpreisen. Aber berühmt, jedenfalls bei Leuten, die Sonntag morgens Schweizer Radio hören, wurde er für die seit 1989 laufende Kurz-Krimi-Serie Die haarsträubenden Fälle des Philip Maloney. Anfangs bloße Zürcher Parodie auf amerikanische Hardboiled-Klischees, wurde bald grenzenlose Alberei daraus. Der Detektiv ist immer heiser, der Polizist ist immer bescheuert, der Fall ist immer etwa 20 Minuten lang und ziemlich an den Haaren herbeigezogen, und pro Leiche fallen ein halbes Dutzend Scherze ab. Einmal etwa sagt eine Hauptperson mit dem Namen Sprecher kein einziges Wort ("Er schweigt für den Regenwald; letztes Jahr haben wir noch gegen das Ozonloch gehustet"). Bruhaha. Gerade erschien die 6. Sammlung auf 5 CDs.

1978 finden vier Studenten ein sterbendes, vergewaltigtes Mädchen im Schnee. Dass sie nicht nur als Zeugen, sondern auch als Verdächtige behandelt werden, zerstört ihre Freundschaft und ein bisschen ihr Leben. Der wirkliche Mörder wird nie gefasst. Aus solch einfachem Stoff baut die schottische Autorin Val McDermid ihr Echo einer Winternacht, dessen zweiter Teil in der Gegenwart spielt. Die Freunde haben sich aus den Augen verloren, aber mit neuen Methoden will die Polizei den alten, ungelösten Fall endlich aufklären. Und jetzt sterben noch mehr Leute. Hier geschieht nichts überraschendes, man muss nicht mal mitdenken, souverän führt einen McDermid durch die spannende Handlung. Also: Trivialkost der gehobenen Sorte.
Alfred Komarek schrieb früher Hörspiele, danach Kulturführer durchs Salzkammergut und kam erst spät mit Kriminalromanen um den Gendarmerie-Inspektor Simon Polt zu Ruhm und Preisen. Die wurden dann zu Fernsehspielen (Arte) und danach auch zu Hörbüchern, von denen gerade Folge 3 Himmel, Polt und Hölle, gelesen von Wolfram Berger, auf 3 CDs erschien. In den östereichischen Weinbergen wird dem Pfarrer der Messwein vergiftet. Aber warum hat die Köchin ihn getrunken? Was macht der Dorf-Schnorrer mit dem Messer? Wieso will sich der Ex-Lehrer mit revolutionärer Vergangenheit umbringen? In flirrender Hitze zerbröselt die Idylle zu einem armseligen Häuflein Menschen, die allesamt größere Probleme als eine Leiche haben.
Douglas Preston und Lincoln Child sind zwei echte Krawall-Buben. Ihre Thriller sind nicht gut geschrieben, schwach gebaut, aber äußerst brutal. Wer lesen möchte, wie man einen Menschen sozusagen auf links zieht, in Butter brät oder ihm eine neue Füllung verpasst, der kann sich das in Ritual - Höhle des Schreckens antun. Wen aber mäßig geschriebene Kleinstadt-Krimis über brave Dörfler, rechtschaffene Polizisten und dunkle Geheimnisse (war die brave Witwe jemals schwanger oder nicht?) langweilen, der lässt die Finger davon.

Es gibt wieder eine deutsche Krimi-Zeitschrift, und sie kommt aus Telgte! Da sitzt der kleine Capricorn-Verlag von Dorothea Puschmann, und dort erscheint seit 2002 einmal im Jahr Criminalis - Magazin für Krimifreunde. Die Verlegerin sammelt darin jeweils ca. zwei Dutzend Kurzkrimis, meist von ziemlich unbekannten Autoren des grauen Marktes, aber sie mischt auch ein paar bekannte Namen darunter (in der Ausgabe Sommer 2004 etwa Horst Eckart und Patrick Süskind). Dazu kommen Rezensionen, Berichte aus der Szene (Dorothea Puschmann ist Mitglied der Autorengruppen Syndikat und Sisters of Crime), Interviews, Preisausschreiben, Veranstaltungshinweise. Nett. Schreibe und Layout sind zwar meist noch deutlich "fannisch", das charmante Hobby-Produkt ist aber auf dem besten Wege. Ausgabe 3 erscheint gerade.
Bali Rai: Die Crew. Wer wie der 16-jährige Billy in üblen Wohngegenden lebt, hat gewisse Dinge schnell raus. Regel eins: Auf der Straße immer ein Mach-mich-nicht-an-Gesicht aufsetzen. Regel zwei: Nur gemeinsam ist man stark, allein geht man unter. Billys Crew-Mitglieder passen aufeinander auf. Legt man sich mit einem an, hat man alle am Hals. Um sich wehren zu können, stemmen die drei Jungen und zwei Mädchen Hanteln und trainieren Kickboxen. Gleichzeitig legen sie Wert auf positive Einstellung: kein Rassismus, keine harten Drogen. Eines Tages finden die Freunde eine Tasche mit 15.000 Pfund. Vielleicht die Beute eines Raubes oder das Versteck eines Drogenkuriers, ganz sicher aber kein Geld, das man einstecken sollte. Schweren Herzens geben sie ihren Fund bei der Polizei ab. Doch damit fangen die Probleme erst an. Der Besitzer möchte sein Geld zurückhaben, egal wie, und schreckt auch nicht vor Entführungen zurück. Rais Thriller gefällt nicht nur durch spannende Action-Szenen und seine zugespitzte Dramaturgie. Harter Slang und spezielle Ausdrücke der Ghettosprache lassen erkennen, dass der Autor nicht bloß angelesenes Wissen weitergibt.
André Lütke-Bohmert sollte sich auf einen kritischen Besuch des Münsteraner AStAs vorbereiten. Immerhin lässt er einen Bösen in seinem Debüt-Roman Das Dante-Ritual als Finanzreferent der Studentenvertretung viel Geld unterschlagen. Andere werfen Leichen in den Aasee, wieder andere gründen unter Drogeneinsatz einen Geheimbund im Philosophischen Seminar, und in einer seltsamen Mischung aus Er- und Ich-Erzählung graben sich ein Kommissar und ein Student an den Kern des Grauens heran. Um am Ende den Verfassungschutz zu rufen, damit der im Internet der bundesweiten Akademiker-Verschwörung nachgeht. Als Groteske ginge das vielleicht. Aber ernsthaft wird nur eine Art purpurnes Flüsschen daraus. Andererseits: so hoch hinaus in Plot-Konstruktion und Münster-Mystifaxen ist seit Norbert Klugmanns "Die Mühlen des Teufels" keiner mehr gesprungen. Das ist allemal interessant. Und preiswert dazu.

Die Biographie von Jörg Brönnimann ist spannender als sein erstes Buch. Fluglotse in der Schweiz, Gelegenheitsarbeiter in Neuseeland, Germanistik-Tutor der Uni-Auckland. Seine Examensarbeit Der Soziokrimi - ein neues Genre oder ein soziologisches Experiment? legt er nun im rührigen Wuppertaler Krimi-Verlag Nordpark vor. Ausführlich widmet er sich den Schweden Sjöwall/Wahlhöö, die 1965 dezidiert die Revolution übers Bücherregal starten wollten, und dem Deutschen Horst Bosetzky, der in den 70ern als -ky das schlechte Gewissen der Nation war. Brönnimann findet zwar nichts Bemerkenswertes heraus (Neuseeländer mögen das anders sehen), wälzt aber auf dem Weg dahin genug Zeitgeschichte, um hier auch Leute zu interessieren, die von Sjöwall/Wahlhöö/-ky noch nie gehört haben. Der Stil ist akademisch, aber nicht abschreckend, und man lernt dazu noch einen Verlag kennen, der fast im Verborgenen Krimi-Sekundärliteratur herausbringt. Und im Internet die uneingeschränkt empfehlenswerten alligatorpapiere.de macht.

Wir haben eine Menge Krimis und Thriller in diesem Jahr gelesen, aber Wendekreis der Nacht von Michael Gruber ist mit Abstand der spannendste. Das liegt nicht nur an den gut entwickelten Hauptpersonen - eine Anthropologin auf der Flucht, ein Cop mit Selbstzweifeln und ein schwarzer Schriftsteller auf der Suche nach Afrika - sondern an der atemberaubenden Geschichte, die einem nach und nach den Boden unter den Füßen wegzieht. In Miami geschehen grausame Morde an Schwangeren, zwei Cops lernen dabei recht schnell, dass es da nicht mit rechten Dingen zugeht. Und die Athropologin Jane Doe (die deutsche Entsprechung des Namens wäre etwa Lieschen Müller oder Erika Mustermann) fühlt sich durch die Morde an etwas erinnert, was sie vor Jahren in Afrika erlebte und vor dem sie seit dem auf der Flucht ist. Gruber benutzt Afrika nicht einfach als Schock-Kulisse, mehr als die Hälfte seines Buches handelt von den grundsätzlichen Problemen der Anthopologie und dem Schamanismus. Sein Trick: er bringt aufgeklärte Westler, Wissenschaftler, langsam in ein Umfeld, das sich mit herkömmlichen Mustern nicht mehr erklären lässt. Nach gut der Hälfte des Buches fängt man auch als Leser an, an Magie zu glauben, gerade weil Gruber sie aus einem wissenschaftlichen Rahmen heraus erklärt: Magie ist so etwas wie Quantenmechanik in der Psyche. Das macht er sehr gut und ernsthaft und schüttelt vor allem seine liebenswerte Hauptfigur Jane Doe mächtig durch, die sich vom fanatischen Realitäts-Fan in eine Zauberin verwandelt, im tiefsten Afrika, wo ihr ein mehr als hundert Jahre alter Greis die Geheimnisse... nun ja, es ist eine Mischung aus Jung, Scientology, Feng Shui und Schroedinger, aber charmant angerührt und in einem genial organisierten Plot (Gruber erzählt die Geschichte in zwei versetzten Zeitebenen) zum beinahe apokalyptischen Ende geführt. Am Ende schießen die Cops auf den Straßen in ihrer Verwirrung aufeinander, und eine schwangere Frau liegt für das letzte Ritual nackt auf einem Opfertisch. Wenn sie stirbt, wird Afrika seinen "schwarzen Hitler" hervorbringen... solange man in dem Buch ist, glaubt man davon jedes Wort.

Noch eine Anthropologin: Vier Hände ist in vielerlei Hinsicht ein Jahrhundert-Roman, eine enorm komische Chronik des 20. Jahrhunderts und seiner Kriege und Revolutionen, und der netteste Gag, den sich Paco Ignacio Taibo II ausgedacht hat, besteht darin, dass quer durch den Roman immer wieder Dissertationsvorschläge einer Anthropologin auftauchen, die im wesentlich den Ursprung von Korruption und Lüge der mexikanischen Gesellschaft ergründen möchte. Alle (naja, fast alle) Vorschläge werden abgelehnt, die einreichende Anthopologin wird offensichtlich immer wütender, denn ihre Vorschläge lesen sich immer schneidender, boshafter, sie beginnt, die Dissertationskommission zu beschimpfen ... es ist zu komisch. Die eigentliche Geschichte: ein CIA-Irrer entwirft eine Verschwörung gegen die linke Regierung Nicaraguas, zwei Journalisten werden in die Operation hineingezogen, die Aktion ist unglaublich kompliziert, aufwändig vorbereitet, viele Menschen müssen dafür sterben. Und dann gibt es da noch drei Veteranen der Revolution, einen Spanier, einen Bulgaren und einen Amerikaner, Männer weit über 70, die nie aufgegeben haben, jedem Staat und jeder Regierung zu misstrauen. Wie Taibo diese drei weisen Rentner der Revolte zeichnet, wie er daraus eine moralische Geschichte des Widerstandes baut und dafür von 1936 bis in die 50er quer durch die blutige europäische Geschichte zieht - das ist eines seiner vielen Kunststücke, die er in Vier Hände vollbringt, einer vielstimmigen, witzigen und lehrreichen Patchwork-Comedy, die sehr ernst gemeint und tief moralisch ist. Auch wenn nebenbei Houdini, Stan Laurel und Leo Trotzki auftreten. Der Roman erschien erstmals vor 14 Jahren, er ist jetzt in der vorzüglichen "metro"-Reihe als Taschenbuch erschienen.

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Andrea Camilleri: Das kalte Lächeln des Meeres Aus dem Italienischen von Christiane v. Bechtolsheim. edition Lübbe, Bergisch-Gladbach 2004, 283 S., 18,- ISBN: 3785715498 / Friedrich Ani: Süden und das verkehrte Kind Knaur, München 2004, 186 S., 7,90 ISBN: 3426623870 / Roger Graf: Die haarsträubenden Fälle des Philip Maloney Tudor Recording 76529. Naxos, Münster 2004, 6 CDs, ca. 40,00 ISBN: 3908567199 / Val McDermid: Echo einer Winternacht Aus dem Englischen von Doris Styron, Droemer, München 2004, 557 S., 19,90 ISBN: 3426196689 / Alfred Komarek: Himmel, Polt und Hölle Preiser Records 90560. Naxos, Münster 2004, 3 CDs, ca. 30,00 ISBN: 3708500490 / Douglas Preston & Lincoln Child: Ritual - Höhle des Schreckens Aus dem Amerikanischen von Klaus Fröba. Droemer, München 2004, 522 S., 22,90 ISBN: 3426196484 / Bali Rai: Die Crew. Aus dem Englischen von Jacqueline Csuss, Sauerländer, Düsseldorf 2004, 254 S., 15,90 ISBN: 3794180232 / André Lütke-Bohmert: Das Dante-Ritual Emons, Köln 2004, 272 S., 5,00 ISBN: 3897053543 / Jörg Brönnimann: Der Soziokrimi - ein neues Genre oder ein soziologisches Experiment? NordPark, Wuppertal 2004, 301 S., 18,- ISBN: 3935421133 / Michael Gruber: Wendekreis der Nacht Aus dem Amerikanischen von Silvia Morawetz, Zsolnay, Wien 2004, 525 S., 24,90 ISBN: 3552053123 / Paco Ignacio Taibo II: Vier Hände Aus dem Spanischen von Anette von Schönfeld. Union, Zürich 2004, m.e. Nachwort von Thomas Wörtche. 445 S., 11,90 ISBN: 3293203108 / Dorothea Puschmann: Criminalis Capricorn, Telgte 2004, 160 S., 9,00 ISBN: 3980796140 /