WISSENSCHAFT

Der Wert des Schweigens

Stephen Jay Gould über Bärtierchen, Shakespeare und Nazis

Wieder gibt es gesammelte Aufsätze des fröhlichen Wissenschaftlers Stephen Jay Gould zu lesen. Und wenn auch nicht alles in dieser dicken Sammlung gleichermaßen interessant ist - Gould hat eine versponnene und anstrengende Vorliebe für alte Wissenschaftsmanuskripte - so ist es doch wichtig, dass zum Beispiel jemand über das Schweigen der Wissenschaft nachdenkt: wer negative Befunde vorfindet, wird das in der Regel nicht veröffentlichen; vielleicht ist die Anzahl der nichtveröffentlichten negativen Befunde aussagekräftiger als die wenigen Fundstellen es sind, wofür Gould mindestens ein nachdenkenswertes Beispiel nennt, nämlich den angeblichen Unterschied zwischen "männlicher" und "weiblicher" Teilung der Hirn-Hemisphären ... schon zu speziell? Allgemeiner wird's selten.
Auch der Aufsatz über Bärtierchen (diese seltsamen Trockenviecher, die man mit Wasser übergießen kann und damit wieder zum Leben erweckt) streift eher Randbereiche. Die Bärtierchen (oder auch Tardigrada) sind so seltsam, dass sie einen eigenen Stamm bilden. Dass in den 90ern Bärtierchen-Fossilien entdeckt wurden, die aus der "kambrischen Explosion" stammen (also vor 535 bis 530 Millionen Jahren) ist Stephen Jay Gould einen eigenen Aufsatz wert. Gould ist ein Anhänger der Theorie der "kambrischen Explosion", jener Denkschule der Paläontologen, die behauptet, alle wichtigen Stämme hätten sich in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum von 5 Millionen Jahren explosionsartig herausgebildet. Danach habe die Evolution resp. die Natur nur noch mit den dann vorhandenen Formen herumgespielt und sie mehr oder minder variiert.
All das würde Gould nur als originellen Denker und leicht verschrobenen Essayisten ausweisen. Aber es gibt auch Aufsätze über Eugenik und die Wannseekonferenz, über Rassenwahn, "natürliche Auslese" und die prinzipiellen Grenzen der Naturwissenschaft, in denen Goulds politisches Engagement sehr klar hervortritt: "In Demut sollten wir erkennen, dass Naturwissenschaft keine Antworten auf ethische Fragen gibt und dazu auch prinzipiell nicht in der Lage ist." Wer vom Erbsenkreuzen eine "Ethik" für die menschliche Kultur ableiten will, ist ein Scharlatan. Nach dem Tod von Carl Sagan ist Stephen Jay Gould einer der letzten Autoren, die das so deutlich und humorvoll ausdrücken können.
Erich Sauer
Stephen Jay Gould: Ein Dinosaurier im Heuhaufen. Streifzüge durch die Naturgeschichte. Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel und Cornelia Holfelder-von der Tann. S. Fischer, Frankfurt 2000, 604 S., 49,90 DM ISBN: 3100278089