Science Fiction Geteilt durch Null Ted Chiang schreibt unmögliche Geschichten über eine mögliche Welt Eine Mathematikerin hat bewiesen, dass jede Zahl gleich ist, also dass 1 = 2 oder gleich jeder beliebige anderen Zahl ist. Dass es solch einen "Beweis" bereits gibt, weiß Ted Chiang natürlich, er funktioniert nur, weil in der Beweisführung unscheinbar eine Operation "geteilt durch Null" erscheint, und das ist nicht zulässig. Nein, der Beweis, von dem hier die Rede ist, kommt ohne diesen Taschenspielertrick aus, und die Mathematikerin, die ihn entdeckt hat, kommt gerade aus der Klinik, weil sie einen Selbstmordversuch hinter sich hat. "Es ist, als ob du Theologe wärst und hättest bewiesen, dass es Gott nicht gibt", sagt sie zu ihrem Mann. In den Geschichten des amerikanischen Informatikers Ted Chiang spielen Naturwissenschaft und Technik eine große Rolle. Und obwohl sie weit von der krawalligen Raketen-Science-Fiction entfernt sind, kommen sie den Ursprüngen des Genres sehr nahe, weil sie beste Spekulationsliteratur sind: Was passiert, wenn unser Verstand die Welt verändert und wenn das Gemüt damit nicht Schritt hält? Oder, wie Chiang in der aufregenden Geschichte "Verstehen" schreibt, einer wunderbaren Variante von "Flowers for Algernon": Was geschieht, wenn die eigene Intelligenzleistung die ganze Welt als Muster versteht, den Kosmos wirklich erkennt - und dabei erkennt, dass unser eigenes Gehirn bei solchen Leistungen an seine Grenzen stößt? In einer weiteren Geschichte entwirft Chiang gleich eine eigene Naturwissenschaft, in der die jüdische Kabbalistik eine Rolle spielt, wo der Name der Dinge das Ding selbst zum Leben erweckt. Die Idee ist eingebettet in eine gothic novel, die in einem London des 19. Jahrhunderts spielt, in dem Adlige noch als Mäzene auftreten und wo die junge Wissenschaft der Thermodynamik die bahnbrechende Entdeckung macht, dass Automaten ihrer Umgebung Wärme entziehen und damit in Ordnung verwandeln. Was wäre, wenn eine injizierte chemische Substanz dazu führen würde, dass wir bei Gesichtern nicht mehr beurteilen könnten, ob sie schön sind oder nicht? Was wäre aus den Tamagochis geworden, wenn sie digitale Gene gehabt hätten? - All diesen Fragen geht Chiang schreibend seit über 20 Jahren nach, wobei Chiangs îvre überaus übersichtlich geblieben ist. Nach dem ersten Erzählband Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes liegt jetzt mit Das wahre Wesen der Dinge der zweite Teil seiner gesammelten Kurzgeschichten vor. Der Golkonda Verlag, auf feine SF spezialisiert, sagt, mehr gibt es nicht. Das ist schade. Alec Coutts
Ted Chiang: Das wahre Wesen der Dinge. Deutsch von Karin Will. Golkonda Verlag, Berlin 2014, 283 S., 16,90
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